Milchsammelfahrer holen die Milch beim Erzeuger zum Weitertransport ab. © Adobe Stock: Parilov
Milchsammelfahrer holen die Milch beim Erzeuger zum Weitertransport ab. © Adobe Stock: Parilov

Die Rechtsnormen des Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluss oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, gelten nach § 4 TVG unmittelbar und zwingend zwischen Tarifvertragsparteien. Abweichende Abmachungen sind nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Das gilt auch für Arbeitsverträge.

 

Der Günstigkeitsvergleich entscheidet im Regelfall

 

Ob ein Arbeitsvertrag abweichende günstigere Regelungen gegenüber dem Tarifvertrag enthält, ergibt sich aus einem Vergleich zwischen der tarifvertraglichen und der arbeitsvertraglichen Regelung. Bei diesem sog. Günstigkeitsvergleich sind die jeweiligen Teilkomplexe der unterschiedlichen Regelungen gegenüberzustellen, die in einem inneren Zusammenhang stehen. So hat es das Bundesarbeitsgericht an Hand des Falles eines Milchsammelfahrers entschieden. Man nennt das einen sog. Sachgruppenvergleich.

 

Der Beschäftigte, Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten und vertreten durch das Gewerkschaftliche Centrum für Revision und Europäisches Recht der DGB Rechtsschutz GmbH, stritt mit seinem Arbeitgeber um die Zahlung eines Verpflegungszuschusses. Der Mann arbeitet seit 2016 als Fahrer eines Tanksammelwagens, mit dem er Rohmilch von den Erzeugern abholt.

 

Den Verpflegungszuschuss regelte ein Tarifvertrag

 

Ausweislich seines Arbeitsvertrages erhielt der Fahrer damals zunächst einen Verpflegungszuschuss in Höhe von 4,70 € für eine tägliche Arbeitszeit von jeweils acht Stunden. Der Arbeitsvertrag regelte darüber hinaus den vereinbarten Stundelohn sowie Zuschläge.

 

2017 schloss der Arbeitgeber mit der Gewerkschaft NGG erstmals einen Manteltarifvertrag ab, der auch Regelungen über einen Verpflegungszuschuss enthielt. Dieser Tarifvertrag sollte nicht für die Milchsammelfahrer gelten. Das änderte sich erst 2020. Ab dann schloss der Manteltarifvertrag auch die Fernfahrer in seinen Geltungsbereich ein. Gleichzeit regelte ein geänderter Lohn- und Gehaltstarifvertrag ebenfalls ab 2020, dass die Vergütung für die  Milchsammelwagenfahrer ab April 2020 13,00 € brutto je Stunde betragen und die bisherigen Regelungen hinsichtlich der Zahlung von Spesen und Anfahrt ab diesem Zeitpunkt entfallen solle.

 

Die Aufwandsentschädigung entfiel

 

Bis März 2020 zahlte der Arbeitgeber an die Fernfahrer den Verpflegungskostenzuschuss in Höhe von 12,- € für 21 Arbeitstage, in welchen der Betroffene mindesten acht Stunden täglich unterwegs war. Diesen bezeichnete er als „Aufwendungsentschädigung“. Ab April 2020 stellte der Arbeitgeber die Zahlungen mit Inkrafttreten des geänderten Lohn- und Gehaltstarifvertrages ein.

 

Mit seiner beim Arbeitsgericht erhobenen Klage machte der Mitarbeiter die weitere Zahlung des Verpflegungszuschusses geltend. Seinen Antrag entschied das Bundesarbeitsgereicht (BAG) nun positiv.

 

Für den Kläger und die Beklagte würden kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit die abgeschlossenen Tarifverträge gelten, so das BAG. Ob ein Arbeitsvertrag abweichende günstigere Regelungen gegenüber dem Tarifvertrag enthalte, ergebe sich regelmäßig aus einem Günstigkeitsvergleich.

 

Der Günstigkeitsvergleich erfolgt nach Sachgruppen

 

Im vorliegenden Rechtsstreit komme es entgegen der Auffassung der Beklagten nicht zu einem Günstigkeitsvergleich zwischen dem tariflichen Entgelt einerseits sowie den Regelungen über das Arbeitsentgelt einschließlich der Zuschläge und dem Anspruch auf einen Verpflegungszuschuss andererseits. Der Verpflegungszuschuss könne nämlich nicht der Sachgruppe „Arbeitszeit und Arbeitsentgelt“ zugeordnet werden. Nur anhand derer wäre ein Günstigkeitsvergleich mit dem für die identische Arbeitszeit geleisteten tariflichen Entgelt durchzuführen.

 

Ob es sich bei dem vertraglich geschuldeten Verpflegungszuschuss um einen Entgeltbestandteil handele, hänge davon ab, ob mit dessen Zahlung erbrachte Arbeitsleistung zusätzlich vergütet werden solle. Zu berücksichtigen seien alle Entgeltbestandteile, die sich - zumindest auch - als Gegenleistung zu der zu erbringenden Arbeitsleistung darstellten.

 

Verpflegungskostenzuschüsse seien regelmäßig Aufwendungsersatzleistungen und stellten kein Arbeitsentgelt dar. Ein Aufwendungsersatz werde nicht als Gegenleistung für geleistete Arbeit, sondern im Hinblick auf besondere Aufwendungen oder Auslagen gewährt, die Arbeitnehmer:innen im Rahmen der Erbringung der Tätigkeit entstanden seien.

 

Vereinbart war ein Aufwendungsersatz

 

Nach dem Arbeitsvertrag müsse die Beklagte einen „Verpflegungszuschuss“ zahlen. Damit hätten die Parteien einen Aufwendungsersatzanspruch vereinbart. Dieser solle Mehraufwendungen des Klägers anlässlich seiner auswärtigen Tätigkeit durch eine Verpflegungspauschale ausgleichen.

 

Die vereinbarte Pauschalierung des Verpflegungszuschusses solle dazu dienen, dass der Kläger nicht die konkret entstandenen Mehraufwendungen im Einzelnen gegenüber der Beklagten nachweisen müsse und diese dann im Gegenzug deren Erstattungsfähigkeit zu prüfen habe. Die Beklagte sei vielmehr verpflichtet, einen typischerweise entstehenden Verpflegungsaufwand abzugelten.

 

Anders als die Beklagte meine, erfasse der Anspruch auf den Verpflegungszuschuss daher nicht die „unmittelbare Hauptpflicht des Arbeitgebers zur Leistung der Vergütung“. Weiterhin decke der Verpflegungszuschuss entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts gerade nicht die Kosten ab, die ein Arbeitnehmer für Verpflegung ohnehin im Rahmen seiner privaten Lebensführung aufzuwenden habe. Vielmehr solle durch den Zuschuss ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass dem Kläger im Rahmen seiner mindestens achtstündigen Fahrtätigkeit außerhalb des Betriebs regelmäßig höhere Aufwendungen für seine Verpflegung entstünden.

 

Die Regelungskompetenz der Tarifvertragsparteien hat Grenzen

 

Die Beklagte habe in der Revisionsinstanz geltend gemacht, der geänderte Tarifvertrag aus 2020 sei dahingehend zu verstehen, dass die Tarifvertragsparteien mit dieser Regelung (zugleich) günstigere einzelvertragliche Ansprüche auf Gewährung eines Verpflegungszuschusses aufheben wollten. Das wäre rechtlich jedoch nicht zulässig, so das BAG. Den Tarifvertragsparteien fehle für eine solche Vereinbarung die erforderliche Regelungskompetenz.

 

Gegenstand kollektiver Regelungen durch tarifvertragliche Normen sei die Festsetzung allgemeiner Mindestarbeitsbedingungen. Die Rechtsnormen eines Tarifvertrags hätten dabei nicht die Wirkung, den Inhalt des Arbeitsverhältnisses zu gestalten. Deren unmittelbare und zwingende Wirkung habe lediglich zur Folge, dass eine ungünstigere Einzelvereinbarung nicht gelten könnte, weil sie von der tariflichen Regelung verdrängt werde.

 

Der Kläger könne daher den Verpflegungszuschuss beanspruchen, soweit die Geltendmachung innerhalb der tarifvertraglichen Ausschlussfrist erfolgt sei.

 

 

Rechtliche Grundlagen

§ 4 TVG

§ 4 Wirkung der Rechtsnormen
(1) Die Rechtsnormen des Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluss oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, gelten unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen. Diese Vorschrift gilt entsprechend für Rechtsnormen des Tarifvertrags über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen.
(2) Sind im Tarifvertrag gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien vorgesehen und geregelt (Lohnausgleichskassen, Urlaubskassen usw.), so gelten diese Regelungen auch unmittelbar und zwingend für die Satzung dieser Einrichtung und das Verhältnis der Einrichtung zu den tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
(3) Abweichende Abmachungen sind nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten.
(4) Ein Verzicht auf entstandene tarifliche Rechte ist nur in einem von den Tarifvertragsparteien gebilligten Vergleich zulässig. Die Verwirkung von tariflichen Rechten ist ausgeschlossen. Ausschlussfristen für die Geltendmachung tariflicher Rechte können nur im Tarifvertrag vereinbart werden.
(5) Nach Ablauf des Tarifvertrags gelten seine Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden.