Rechtsschutzsekretär Thomas Schlingmann beim Arbeitsgericht Nienburg noch „Not amused“ aber dann erfolgreich beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen!
Rechtsschutzsekretär Thomas Schlingmann beim Arbeitsgericht Nienburg noch „Not amused“ aber dann erfolgreich beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen!

Die Mitglieder der IG Metall, die nach Austritt ihres Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband die tariflichen Lohnerhöhungen fordern, werden derzeit in 40 Berufungsverfahren beim Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen und weiteren neun erstinstanzlichen Verfahren beim Arbeitsgericht Nienburg durch Thomas Schlingmann, Rechtsschutzsekretär der DGB Rechtsschutz GmbH, Büro Bremen, vertreten.

„Not amused“ war Schlingmann als er vom Arbeitsgericht Nienburg in 32 Fällen abweisende Urteile kassierte, da deren Begründungen für ihn schlichtweg nicht nachvollziehbar waren. Er verfolgte sein Ziel weiter und legte nach Rechtsschutzgewährung durch die IG Metall Berufungen gegen die Nienburger Urteile beim LAG Niedersachsen ein, die allesamt vom Erfolg gekrönt waren. Das LAG folgte seiner Rechtsauffassung und hob die erstinstanzlichen Urteile auf.

Erfolgreicher Weg durch die Instanzen

Der erfolgreiche Weg durch die Instanzen hatte das von Beginn an verfolgte Ergebnis. Den klagenden Arbeitnehmer*innen wurden für die Jahre 2015 und 2016 erhebliche Nachzahlungen zuerkannt. Zudem muss ihr aktueller Bruttomonatslohn unter Berücksichtigung der vergangenen Tariflohnerhöhungen neu berechnet werden. Weiterhin muss der Arbeitgeber auch künftige Erhöhungen des Tariflohns weitergeben - die nächste tarifliche Lohnsteigerung um 2,0 % steht bereits im April 2017 an.

Gleichstellungsabrede und dynamische Verweisung auf Tarifverträge

Nach der alten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) galt die widerlegliche Vermutung, dass es einem an arbeitsvertraglich in Bezug genommene Tarifverträge gebundenen Arbeitgeber nur darum ging, durch die Bezugnahme die nicht organisierten Beschäftigten (Außenseiter) mit den Organisierten (Gewerkschaftsmitglieder) hinsichtlich der Geltung des in Bezug genommenen Tarifwerks gleichzustellen. Ein zunächst tarifgebundener Arbeitgeber konnte also aus dem Arbeitgeberverband austreten und seine Tarifgebundenheit beenden. Damit endete dann auch die Gleichstellungsabrede, was zur Folge hatte, dass die Arbeitnehmer*innen nicht mehr an künftige Tariflohnentwicklungen partizipieren konnten, und zwar selbst dann nicht, wenn im Arbeitsvertrag eine dynamische Bezugnahmeklausel auf den Tarifvertrag vereinbart war. Ab Wegfall der arbeitgeberseitigen Tarifbindung sollten die in Bezug genommenen Tarifverträge nur noch statisch gelten.

Das BAG hat dann im Jahre 2005 diese Rechtsprechung aufgegeben. Auch bei Wegfall der Tarifbindung des Arbeitgebers bleiben nunmehr einzelvertragliche dynamische Bezugnahmeklauseln bestehen. Allerdings hat das BAG dies nur für solche Arbeitsverträge entschieden, die nach dem Inkrafttreten der Schuldrechtsreform am 1. Januar 2002 vereinbart worden sind. Für die Altfälle, also Vertragsschlüsse vor diesem Zeitpunkt, wendet das BAG die Auslegungsregel zur zuvor dargestellten Gleichstellungsabrede aus Gründen des Vertrauensschutzes weiterhin an.

Der Sonderfall: Altvertrag und spätere Vertragsänderung

Die Besonderheit der vom LAG Niedersachsen entschiedenen Fälle lag darin, dass eine Vielzahl von Arbeitnehmer*innen einen „Altvertrag“ aus den 1990er Jahren hatte. Grundsätzlich würde für sie die alte Rechtsprechung des BAG zur Gleichstellungsabrede gelten. Sie könnten also nach Austritt des Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband keine dynamischen Ansprüche hinsichtlich des Tariflohns mehr geltend machen.

Hier gab es aber im Oktober 2004 einen Betriebsübergang: Der jetzige Arbeitgeber übernahm den Betrieb seinerzeit von der Siemens AG. Im August 2004 erhielten alle davon betroffenen Arbeitnehmer*innen ein gemeinsames Schreiben der Siemens AG und des Betriebserwerbers, das u.a. folgende Mitteilung enthielt:

„Auf Ihr Arbeitsverhältnis finden weiterhin die einschlägigen Tarifverträge der
Metall- und Elektroindustrie in ihrer jeweiligen Fassung Anwendung“


Die entscheidende Frage war, ob diese Mitteilung als ein „Neuvertrag“ im Sinne der Rechtsprechung des BAG zu bewerten ist.

Landesarbeitsgericht Niedersachsen contra Arbeitsgericht Nienburg

Das Arbeitsgericht Nienburg hat in den Entscheidungsgründen insbesondere ausgeführt, dass in dem Mitteilungsschreiben zum Betriebsübergang kein rechtsgeschäftliches Handeln zu sehen sei, mit welchem die Arbeitsvertragsparteien die ursprüngliche Gleichstellungsabrede erneut zum Gegenstand rechtsgeschäftlicher Willensbildung gemacht hätten. Vielmehr seien lediglich deklaratorisch die Rechtsfolgen des § 613a Abs. 1 BGB dargestellt worden. Die Bezugnahmeklausel könne man deshalb nicht als „Neuvertrag“ behandeln. Die Angaben in dem Schreiben zum Betriebsübergang seien Wissens- und keine Willenserklärungen.

In den Berufungsverfahren wurde von dem Bremer Prozessvertreter der DGB Rechtsschutz GmbH weiterhin die gegenteilige Auffassung vertreten. Er verwies darauf, dass der Arbeitgeber im Rahmen des Betriebsübergangs eine Zusage gegeben habe, die eine dynamische Inbezugnahme auf die im Jahre 2004 geltenden Tarifverträge beinhalte. Des Weiteren müsse man berücksichtigen, dass sich die Arbeitnehmer*innen auf eine Überleitungsvereinbarung berufen können, die vor dem Betriebsübergang zwischen der Siemens AG, dem Gesamtbetriebsrat und dem Betriebserwerber getroffen wurde. Auch hier sei eine Willenserklärung des Betriebserwerbers hinsichtlich der Tarifbindung nach der Überleitung zu erkennen.

Das LAG Niedersachsen folgte der Begründung des Klägervertreters und hat den Arbeitnehmer*innen, die bereits vor dem Betriebsübergang beschäftigt waren, den fortwährenden Anspruch auf Weitergabe der Tariflohnerhöhungen zugebilligt. Hauptsächlich bezieht sich das LAG Niedersachsen in seiner Entscheidung auf das an die Beschäftigten gerichtete Schreiben zum Betriebsübergang vom August 2004. Gerade die Gestaltung der Tarifbindung sei erneut zum Gegenstand der vertraglichen Willensbildung gemacht worden. Der Betriebserwerber habe auf die ihm gesetzlich zustehende Möglichkeit, die tarifliche Lage nach Ablauf eines Jahres abzuändern verzichtet und eine ausdrückliche rechtsrelevante Erklärung zur Tarifbindung abgegeben.

Die Revision zum BAG wurde nicht zugelassen. Da die von der Arbeitgeberseite angekündigte Nichtzulassungsbeschwerde aller Voraussicht nach keinen Erfolg haben wird, sind die Verfahren damit rechtskräftig abgeschlossen.

„Flickenteppich“ in der betrieblichen Lohnentwicklung wird manifestiert

Ein Wermutstropfen bleibt: Die später - also nach dem Betriebsübergang im Jahre 2004 - eingestellten Arbeitnehmer*innen werden im Regelfall nicht mehr an der Erhöhung der Tariflöhne teilhaben. Für sie gilt: Ein Anspruch auf Lohnerhöhung entsprechend der Entwicklung der Tariflöhne in der Metall- und Elektroindustrie besteht nur, wenn in den Arbeitsverträgen eine uneingeschränkte Bezugnahme auf die Tarifverträge vereinbart wurde. Damit kommt es zu einer zweigeteilten Belegschaft und zu einem „Flickenteppich“ in der betrieblichen Lohnentwicklung. Aufgrund der unterschiedlichen Gestaltung der Arbeitsverträge ist diese Entwicklung nur aufzuhalten, wenn der Arbeitgeber sich entscheidet, wieder in die Tarifbindung zurückzukehren.

IG Metall ist zur Beseitigung des „Flickenteppichs“ bereit

Die IG Metall, so Thomas Schlingmann, ist verhandlungsbereit. Es ist zu hoffen, dass auch der Arbeitgeber den Willen hat, die Tarifbindung und die Lohngerechtigkeit in seinem Betrieb wiederherzustellen. Bis dahin werden die noch rechtshängigen Klageverfahren beim Arbeitsgericht Nienburg und beim LAG Niedersachsen fortgeführt.

Hier finden Sie das vollständige Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 06.12.2016 - Az: 11 Sa 225/26 -