Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg contra Bundesarbeitsgericht
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg contra Bundesarbeitsgericht

Die Kollegin, die Mitglied der IG Metall ist, beanspruchte Entgeltfortzahlung, weil sie in der Zeit vom 19. März 2015 bis zum 17. April 2015 krank war. Bereits vor dem 19. März 2015 war sie arbeitsunfähig gewesen. Ein Schreiben der Krankenkasse, aus dem sich ergab, dass seit dem 19. März eine neue Krankheit vorlag, nannte keine Diagnosen. Deshalb weigerte sich Arbeitgeberin zu bezahlen. Sie behauptete, die Kollegin sei ab dem 19. März 2015 wegen derselben Krankheit arbeitsunfähig gewesen, die bereits vorher zur Arbeitsunfähigkeit geführt hatte.

Rechtliche Grundlagen

Wer wegen Krankheit arbeitsunfähig ist, hat einen Anspruch gegen die Arbeitgeberin auf Entgeltfortzahlung für die Dauer der Erkrankung, maximal aber für sechs Wochen. Das ist unproblematisch. Probleme können auftreten, wenn die Arbeitnehmerin nach dem Ablauf dieser sechs Wochen zunächst wieder gesund wird und danach erneut erkrankt. Dann kommt es für die Frage einer erneuten Entgeltfortzahlung entscheidend darauf an, ob beide Arbeitsunfähigkeitszeiten auf derselben Krankheit beruhen.

- Voneinander unabhängige Krankheiten

Geht es um zwei Krankheiten, die unabhängig voneinander sind, besteht auch für die zweite Krankheit ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn zunächst eine Lungenentzündung vorliegt und nach ihrer erfolgreichen Behandlung erneut Arbeitsunfähigkeit wegen Wirbelsäulenbeschwerden eintritt.

- Fortsetzungserkrankung

Wird die Arbeitnehmerin nicht mehr länger krankgeschrieben, obwohl die Krankheit noch nicht vollständig ausgeheilt ist, und bricht dieselbe Krankheit später erneut aus, weil sie als Grundleiden latent weiter bestanden hat, spricht man von einer Fortsetzungserkrankung.

Ein Beispiel dafür ist, wenn jemand an Krebs erkrankt. Im Anfangsstadium können Ärzte die Arbeitsfähigkeit durchaus vorübergehend wieder herstellen. Wenn später erneut Arbeitsunfähigkeit eintritt, weil sich der Gesundheitszustand wieder verschlechtert, liegt eine Fortsetzungserkrankung vor.

Bei Fortsetzungserkrankungen besteht nur dann ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung, wenn eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

  • Der Zeitraum, der zwischen den beiden Arbeitsfähigkeiten liegt, ist sechs Monate oder länger.
  • Seit dem Ausbruch der ersten Krankheit sind mindestens zwölf Monate vergangen.

Zurück zum Fall der Kollegin

Die Kollegin erfüllte keine dieser beiden Voraussetzungen. Deshalb kam es in ihrem Fall entscheidend darauf an, ob die zweite Krankheit eine neue Krankheit oder eine Fortsetzungserkrankung war. Weil sie bereits im Vorfeld schlechte Erfahrungen gemacht hatte, war sie nicht bereit anzugeben, woran sie jeweils erkrankt war. Deshalb stellte sich die Frage, ob sie dazu verpflichtet war, oder, ob die Gegenseite darlegen und nachweisen musste, dass keine neue, sondern eine Fortsetzungserkrankung vorlag.

Die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts

Das Bundesarbeitsgericht stellt zunächst fest, dass alle Tatsachen, die einen Anspruch begründen können, von demjenigen darzulegen und zu beweisen sind, der den Anspruch geltend macht. Dagegen sind diejenigen Tatsachen, die gegen einen Anspruch sprechen, von dem darzulegen und zu beweisen, der den Anspruch abwehren will.
Daraus folgt, dass die Klägerin zunächst ihre (erneute) Arbeitsunfähigkeit behaupten und nachweisen muss. Das wird ihr in aller Regel durch entsprechende ärztliche Atteste gelingen. Wenn sich die Arbeitgeberin dann darauf beruft, dass eine Fortsetzungserkrankung vorliegt, muss sie dies eigentlich darlegen und beweisen. Schafft sie das nicht, bekommt die Klägerin ihre Entgeltfortzahlung.

Von dieser Verteilung der Darlegungs- und Beweislast weicht das Bundesarbeitsgericht in Fällen der Fortsetzungserkrankung aber ab. Als Begründung dafür führt es an, dass die Arbeitgeberin zur Frage einer Fortsetzungserkrankung nichts sagen kann, weil sie gar nicht weiß, an welchen Krankheiten die Klägerin leidet. Aus den der Arbeitgeberin vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen („gelber Schein“) ergeben sich die Diagnosen nämlich nicht. Auch Mitteilungen der Krankenkasse kann die Arbeitgeberin aus demselben Grund nicht überprüfen.

Dem entsprechend fordert das Gericht von der Klägerin darzulegen, dass keine Fortsetzungserkrankung besteht. Dazu muss die Kranke angeben, welche Diagnosen der Arzt gestellt hat. Außerdem muss sie ihren Arzt von dessen ärztlicher Schweigepflicht entbinden. Erst danach kann die Arbeitgeberin - so das Bundesarbeitsgericht - zur Frage einer Fortsetzungserkrankung qualifiziert Stellung nehmen.

Konsequenzen dieser Rechtsprechung auf den Fall der Kollegin

Die Kollegin hat sich geweigert, ihre Diagnosen anzugeben. Damit hat sie nicht dargelegt, dass eine neue Erkrankung gegeben ist. Da sie dazu verpflichtet ist, hätte das Bundesarbeitsgericht die Klage der Kollegin abgewiesen. Sie hätte keine Entgeltfortzahlung erhalten. Die Arbeitgeberin hätte den Prozess gewonnen.

Die Auffassung des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg

Nach Ansicht dieses Gerichts muss die Kollegin erst dann ihre Diagnosen angeben und ihren Arzt von seiner Schweigepflicht entbinden, wenn durch Tatsachen begründete Zweifel daran bestehen, dass eine neue Krankheit gegeben ist. Die Zweifel sind erforderlich, weil das Schreiben der Krankenkasse zunächst dafür spricht, das die Kollegin eine neue Krankheit hat.

Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg begründet seine Auffassung damit, dass es einen Wertungswiderspruch sieht: Wenn die Arbeitgeberin sich weigert, Entgelt fortzuzahlen, hat die Kranke Anspruch auf Krankengeld. Ist die Krankenkasse der Meinung, dass eine neue Krankheit vorliegt, kann sie sich an die Arbeitgeberin wenden und verlangen, dass diese das von der Krankenkasse bezahlte Krankengeld ersetzt. Kommt ein solcher Fall vor das Arbeitsgericht, darf die Krankenkasse wegen Bestimmungen des Datenschutzes die Diagnosen der Kranken nicht nennen. Wenn das Gericht aber von der Krankenkasse die Angabe von Diagnosen nicht verlangen darf, kann nichts anderes gelten, wenn statt der Krankenkasse die betroffene Person selbst klagt.

Konsequenzen dieser Rechtsprechung auf den Fall der Kollegin

Trotz der Weigerung der Kollegin, ihre Diagnosen anzugeben, ging das Gericht aufgrund der Mitteilung der Krankenkasse vom Vorliegen einer neuen Krankheit aus. Denn der Gegenseite sei es nicht gelungen Tatsachen anzugeben, die geeignet gewesen wären, Zweifel am Schreiben der Krankenkasse und damit an einer neuen Krankheit zu begründen. Das wäre aber für eine Pflicht erforderlich gewesen, die Diagnosen zu offenbaren.

Die Kollegin hat also mit Hilfe der DGB Rechtsschutz GmbH ihren Anspruch auf Entgeltfortzahlung durchsetzen können.

Da diese Entscheidung aber im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts steht, kann die Gegenseite Revision einlegen. Wenn sie dies tut, werden wir weiter berichten.

Hier finden Sie die vollständige Entscheidung des Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg vom 08.06.2016
und das vollständige Urteil des Bundesarbeitsgericht vom 13.07.2005

Rechtliche Grundlagen

§ 3 Entgeltfortzahlungsgesetz

Gesetz über die Zahlung des Arbeitsentgelts an Feiertagen und im Krankheitsfall (Entgeltfortzahlungsgesetz)

§ 3 Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall

(1) Wird ein Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, ohne daß ihn ein Verschulden trifft, so hat er Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen. Wird der Arbeitnehmer infolge derselben Krankheit erneut arbeitsunfähig, so verliert er wegen der erneuten Arbeitsunfähigkeit den Anspruch nach Satz 1 für einen weiteren Zeitraum von höchstens sechs Wochen nicht, wenn

1. er vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig war oder
2. seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit eine Frist von zwölf Monaten abgelaufen ist.


(2) Als unverschuldete Arbeitsunfähigkeit im Sinne des Absatzes 1 gilt auch eine Arbeitsverhinderung, die infolge einer nicht rechtswidrigen Sterilisation oder eines nicht rechtswidrigen Abbruchs der Schwangerschaft eintritt. Dasselbe gilt für einen Abbruch der Schwangerschaft, wenn die Schwangerschaft innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis durch einen Arzt abgebrochen wird, die schwangere Frau den Abbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nachgewiesen hat, daß sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff von einer anerkannten Beratungsstelle hat beraten lassen.


(3) Der Anspruch nach Absatz 1 entsteht nach vierwöchiger ununterbrochener Dauer des Arbeitsverhältnisses.