Die Durchführung einer Betriebsänderung in Form einer Stilllegung des Betriebes kann auch mit einer unwiderruflichen Freistellung sämtlicher Arbeitnehmer beginnen.

Welcher Sachverhalt lag dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg zu Grunde?


Die Parteien streiten um die Zahlung eines Nachteilsausgleichs. Die 1952 geborene Klägerin ist seit dem Jahr 2000 bei der E. D. GmbH, einem bundesweit tätigen Dienstleister im Fitness- und Wellness-Bereich beschäftigt, zuletzt für ein Bruttomonatsentgelt von 1.600,00 EUR. Sie war in der Betriebsstätte in Berlin-Tegel, einem von ihrer Arbeitgeberin betriebenen Fitness-Club beschäftigt. Für die Berliner Region des Unternehmens bestand ein Betriebsrat.

Nachdem über das Vermögen ihrer Arbeitgeberin das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, wurde der Beklagte am 01.10.2009 zum Insolvenzverwalter bestellt. Er kündigte noch im Oktober 2009 sämtliche Mietverträge für alle betroffenen Fitnessclubs zum 31.01.2010. Bis auf zwei Betriebsstätten, darunter auch die in Berlin-Tegel, wurden alle anderen Clubs von neuen Erwerbern unterbrechungslos fortgeführt. Am 13.01.2010 traf der Beklagte die unternehmerische Entscheidung, den Fitnessclub in Tegel über den 31.01.2010 nicht mehr fortzuführen, da sich für diesen Club kein Investor gefunden hatte. Diese Entscheidung teilte er den Mitarbeitern und den Clubmitgliedern mit.

Mit Schreiben vom 26.01.2010 stellte der beklagte Insolvenzverwalter sämtliche   Arbeitnehmer der Betriebsstätte Tegel ab 01.02.2010 »unwiderruflich von Ihrer Pflicht zur Arbeitsleistung frei…«. Die bereits Mitte Januar 2010 begonnenen Verhandlungen über einen Interessenausgleich wurden im Februar 2010 abgeschlossen. Der Interessenausgleich wurde am 23.02.2010 unterschrieben und nachfolgend ein Sozialplan abgeschlossen. Danach erhält die Klägerin eine Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes in Höhe von 20.191,92 EUR, von denen am Ende des Sozialplanverfahrens eine anteilige Ausschüttung von etwa 2/3 erwartet wird.

Mit Schreiben vom 25.02.2010 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zum 30.04.2010. In einem Vergleich zur Beilegung einer Kündigungsschutzklage einigten sich die Parteien darauf, dass die Klägerin unter anderem »zum Ausgleich für den Verlust des Arbeitsplatzes entsprechend §§ 9, 10 KSchG eine Abfindung in Höhe von 1.400,00 Euro« erhält. Seit dem 01.05.2010 steht die Klägerin in einem neuen Arbeitsverhältnis.

Mit ihrer neuen Klage zum Arbeitsgericht Berlin hat die Klägerin einen Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 BetrVG in Höhe von mindestens 8.000,00 EUR brutto nebst Zinsen gefordert, da der Beklagte mit der »unwiderruflichen Freistellung« die Betriebsänderung bereits vor Abschluss des Interessenausgleichs mit dem Betriebsrat durchgeführt habe.

Das Arbeitsgericht Berlin gab der Klage hat mit Urteil vom 04.10.2011 zum Teil statt und verurteilte den Beklagten, der Klägerin die geforderten 8000,00 EUR zu zahlen, auf die allerdings die der Klägerin zustehende Sozialplanabfindung anrechenbar sein sollte. Dagegen legte der beklagte Insolvenzverwalter Berufung ein. Er meint, dass der Tatbestand des § 113 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 BetrVG nicht erfüllt sei. Die unwiderrufliche Freistellung der Arbeitnehmer des Clubs mit Wirkung ab 01.02.2010 sei nicht der Beginn einer Betriebsänderung. Ebenso wie die vorübergehende Nichtfortführung der betrieblichen Tätigkeit sei die Freistellung von Arbeitnehmern regelmäßig noch umkehrbar.

Wie hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg entschieden?


Das LAG änderte das Urteil des Arbeitsgerichts vom 04.10.2011 ab. Der beklagte Insolvenzverwalter wurde verurteilt, an die Klägerin 2.600,00 EUR nebst Zinsen zu zahlen, von den Kosten des Rechtsstreits wurden ihm 1/3, der Klägerin 2/3 auferlegt.

Die Klägerin hat auch nach Auffassung des LAG gemäß § 113 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 BetrVG gegen den Beklagten einen Anspruch auf Zahlung eines Nachteilsausgleichs, der auf den Sozialplananspruch der Klägerin anzurechnen ist, allerdings nur in der genannten Höhe.

Nach § 113 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 BetrVG kann ein Arbeitnehmer vom Unternehmer die Zahlung einer Abfindung verlangen, wenn der Unternehmer eine geplante Betriebsänderung nach § 111 BetrVG durchführt, ohne über sie ein Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben und infolge der Maßnahme Arbeitnehmer entlassen werden oder andere wirtschaftliche Nachteile erleiden.

Die Regelung findet auch im Insolvenzverfahren uneingeschränkt Anwendung. Der Anspruch entsteht, sobald der Unternehmer mit der Durchführung der Betriebsänderung begonnen hat, ohne bis dahin einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben. Der Unternehmer beginnt mit der Durchführung einer Betriebsänderung, wenn er unumkehrbare Maßnahmen ergreift und damit vollendete Tatsachen schafft. Eine Betriebsänderung in Form der Stilllegung besteht in der Aufgabe des Betriebszwecks unter gleichzeitiger Auflösung der Betriebsorganisation für unbestimmte, nicht nur vorübergehende Zeit. Ihre Durchführung beginnt, sobald der Unternehmer unumkehrbare Maßnahmen zur Auflösung der betrieblichen Organisation ergreift.

Nach diesen Grundsätzen hat der Beklagte durch die unwiderrufliche Freistellung sämtlicher Arbeitnehmer der Betriebsstätte Tegel eine unumkehrbare Maßnahme zur Auflösung der betrieblichen Organisation ergriffen. Denn wie eine Kündigung, welche als eine derartige unumkehrbare Maßnahme angesehen wird (vgl. BAG 30.05.2006, - 1 AZR 25/05 -), ist die unwiderrufliche Freistellung nicht mehr umkehrbar, der Arbeitgeber hat damit selbstbindend erklärt, dass er auf die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers „für immer“ verzichtet. Anders als im Fall der widerruflichen Freistellung war der Beklagte damit nicht mehr in der Lage, einseitig den Betrieb fortzuführen, er benötigt dafür das Einverständnis der Arbeitnehmer.

Die entsprechende Anwendung von § 113 Abs. 1 BetrVG mit dem Verweis auf § 10 KSchG bedeutet, dass für die damals 58-jährige Klägerin ein Nachteilsausgleich in Höhe von bis zu zwölf Monatsverdiensten festzusetzen war.

Diesen Rahmen hat die zuständige Kammer aber nicht ausgeschöpft. Zutreffend hat nach Ansicht des LAG der Beklagte auf die insolvenzrechtlichen Besonderheiten des Falls hingewiesen:

Die Klägerin hat zwar durch die unwiderrufliche Freistellung vor Abschluss des Interessenausgleichs einen Nachteil erlitten. Dieser wäre aber auch – abgesehen von dem denkbaren, aber nicht sehr realistischen Weiterführen des Betriebes – bei ordnungsgemäßen Verhalten des Beklagten eingetreten. Der Beklagte hat die Kündigung der Klägerin erst nach dem Abschluss des Interessenausgleichs ausgesprochen und damit die Kündigungsfristen nicht verkürzt.

 Durch die unwiderrufliche Freistellung hat der Beklagte zwar mit der Betriebsänderung vor Abschluss des Interessenausgleichs begonnen, er hat damit der Klägerin aber die Möglichkeit des Bezugs von Arbeitslosengeld im Wege der so genannten Gleichwohlgewährung gemäß § 143 Abs. 3 SGB III eröffnet. Die Entgeltdifferenz zwischen Arbeitslosengeld und Bruttovergütung hat der Beklagte bereits ausgeglichen.

Die Klägerin hat einen Anspruch aus dem Sozialplan, der den von ihr begehrten Mindestnachteilsausgleich selbst bei einer 2/3-Ausschüttung bei weitem übersteigt. Dieser Sozialplananspruch ist anrechenbar, allerdings nur, soweit die Zahlung tatsächlich erfolgt ist.

Die Klägerin hat schließlich nahtlos ein Arbeitsverhältnis nach dem 30.04.2010 gefunden. Ist daher unter Berücksichtigung aller Umstände nach Auffassung der Kammer pro volles Beschäftigungsjahr nur 1/4-Bruttomonatslohn festzusetzen (10 volle Jahre x 1.600,00 Euro ÷ 4 = 4.000,00 Euro), war davon die Abfindung gemäß §§ 9, 10 KSchG nach dem Vergleich im Kündigungsschutzverfahren abzuziehen, da auch in diesem Verfahren die Nachteile »entsprechend §§ 9, 10 KSchG« mit 1.400,00 Euro abgefunden worden sind.

Dieser Nachteilsausgleichsanspruch der Klägerin ist nicht verfallen. Zwar können auch Nachteilsausgleichsansprüche grundsätzlich auch arbeitsvertraglichen Verfallfristen unterfallen. Die vorliegend im Rahmen von allgemeinen Arbeitsvertragsbedingungen aufgestellte Verfallklausel des § 10 Ziff. 2 des Arbeitsvertrags ist jedoch gemäß § 307 Abs. 1 S. 1 BGB als den Arbeitnehmer unangemessen benachteiligend unwirksam, da sie weniger als drei Monate beträgt.

Auswirkungen der Entscheidung auf die Praxis:

Nach der Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg steht fest, dass § 113 BetrVG auch schon vor der abschließenden Vereinbarung eines geplanten Interessenausgleiches Wirkung entfalten kann. Ein Interessenausgleich war vorliegend zwar in Aussicht, der Arbeitgeber hatte aber schon vorher unumkehrbare Entscheidungen getroffen. Im Ergebnis wurde dies wie eine Betriebsänderung ohne Versuch eines Interessensausgleiches mit dem Betriebsrat gewertet.
Es sollte daher von den Arbeitnehmervertretern darauf geachtet werden, dass weder vor noch während der Verhandlungen und abschließenden Vereinbarung eines Interessensausgleiches Maßnahmen ergriffen werden, die unumkehrbar sind. Diese Maßnahmen sind insbesondere Kündigung und unwiderrufliche Freistellung.
Werden solche Maßnahmen ergriffen und erleiden im Rahmen der Betriebsänderung Mitarbeiter Nachteile (insbesondere Arbeitsplatzverlust) haben sie in jedem Fall einen Abfindungsanspruch nach § 113 BetrVG.
Sollten dann noch Ansprüche aus einem Sozialplan bestehen, werden diese freilich auf die gezahlte Abfindung angerechnet.


Das Urteil des LAG Berlin-Brandenburg vom 02.03.2012, Az: 13 Sa 2187/11