Während einer Nachtschicht im Frühjahr 2019 zog ein Arbeitnehmer einem als Leiharbeitnehmer beschäftigten Kollegen mit beiden Händen die Arbeits- und Unterhose herunter. Durch diese überraschende Aktion war der Leiharbeitnehmer dem Gelächter und den Blicken mehrerer Arbeitskollegen ausgesetzt. Aufgrund seines Verhaltens kündigte die Arbeitgeberin dem Arbeitnehmer fristlos, der daraufhin Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht Leipzig erhob, die von Erfolg gekrönt war.

Kläger in zwei Instanzen erfolgreich

Die gegen die erstinstanzliche Entscheidung gerichtete Berufung der Arbeitgeberin beim Landesarbeitsgericht (LAG) Sachsen blieb erfolglos. Auch die Richter*innen des LAG hielten die Kündigung für unwirksam, ließen jedoch die Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) zu.

Bundesarbeitsgericht kippt Entscheidungen der Tatsacheninstanzen

Zu einem anderen Ergebnis als die Vorinstanzen kam das BAG. Dieses entschied zu Gunsten der Arbeitgeberin. Es kam zu dem Ergebnis, dass das Entblößen der Genitalien eines Arbeitskollegen an sich geeignet sei, einen wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB darzustellen.

Dem Kläger, so das Gericht, obliege eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen der Arbeitgeberin. Diese habe er erheblich verletzt. Denn die Arbeitgeberin habe ein schutzwürdiges Interesse daran, dass ihre Arbeitnehmer mit den im Betrieb eingesetzten Leiharbeitnehmern respektvoll und gedeihlich zusammenarbeiten. Auch sei sie verpflichtet, diese vor sexuellen Belästigungen zu schützen.

Entblößen der Genitalien eines Kollegen kann sexuelle Belästigung darstellen

Das absichtliche Entblößen der Genitalien eines Kollegen, so das BAG, könne eine sexuelle Belästigung darstellen. Im Übrigen stelle das Verhalten einen erheblichen und entwürdigenden Eingriff in die Intimsphäre und damit eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar.

BAG weist die Sache zurück an das LAG zwecks Prüfung der Verhältnismäßigkeit

Das Bundesarbeitsgericht wies den Fall an das LAG Sachsen zwecks Prüfung, ob die fristlose Kündigung im Einzelfall verhältnismäßig ist, zurück. Hierbei wird das LAG die Hinweise des BAG zu beachten haben, bei denen es sich um folgende handelt:

 

„Bei der Prüfung des wichtigen Grundes iSv. § 626 Abs. 1 BGB sind ergänzende Feststellungen zur Schwere der Pflichtverletzung und damit der Entbehrlichkeit einer Abmahnung zu treffen, insbesondere ob der Kläger den Leiharbeitnehmer iSv. § 3 Abs. 4 AGG sexuell belästigte, indem sich seine Intention darauf richtete, ihm nicht nur die Arbeitshose, sondern auch die Unterhose herunterzuziehen. Sollte das nicht der Fall gewesen sein, könnte es zwar an einer sexuellen Belästigung gefehlt haben. Das Verhalten des Klägers stellte aber dennoch jedenfalls einen erheblichen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Leiharbeitnehmers dar. Relevant für die Schwere der Pflichtverletzung wäre insofern insbesondere der Grad des Verschuldens des Klägers an der vollständigen Entblößung des Leiharbeitnehmers.

Im Übrigen von Bedeutung für die Schwere der Pflichtverletzung sind vor allem ihre unmittelbaren oder für die Zukunft zu prognostizierenden Folgen für das Opfer des Übergriffs sowie für die Arbeitsabläufe und die respektvolle Zusammenarbeit der Beschäftigten, einschließlich der Leiharbeitnehmer. Die Schwere der Pflichtverletzung des Klägers mindernd könnten bislang nicht näher festgestellte vorhergegangene Übergriffe des Leiharbeitnehmers selbst sein, wobei diese wiederum in ihrer Schwere im Verhältnis zum Verhalten des Klägers zu betrachten wären.

Von weiteren Hinweisen sieht der Senat angesichts des bislang nur beschränkt festgestellten Sachverhalts ab."


Über den weiteren Verlauf der Sache werden wir berichten.

Hier finden Sie das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 20. Mai 2021- 2 AZR 596/20 –:

Rechtliche Grundlagen

§ 626 Abs, 1 BGB und § 12 Abs. 1 und 3 AGG

§ 626 Abs.1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

§ 626 Fristlose Kündigung aus wichtigem Grund

(1) Das Dienstverhältnis kann von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann.

§ 12 Abs. 1 und 3 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)

§ 12 Maßnahmen und Pflichten des Arbeitgebers

(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz vor Benachteiligungen wegen eines in § 1 genannten Grundes zu treffen. Dieser Schutz umfasst auch vorbeugende Maßnahmen.

(3) Verstoßen Beschäftigte gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1, so hat der Arbeitgeber die im Einzelfall geeigneten, erforderlichen und angemessenen Maßnahmen zur Unterbindung der Benachteiligung wie Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung zu ergreifen.