Wer „gewinnt“ die Sozialauswahl? Copyright by warmworld / Fotolia.
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Mit dieser Frage beschäftigt sich das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 18. September 2018.
 

Kriterien für die Sozialauswahl

Seit dem Jahr 2003 ist im Kündigungsschutzgesetz geregelt, dass eine Sozialauswahl ausschließlich anhand der Kriterien

  • Betriebszugehörigkeit
  • Lebensalter
  • Unterhaltspflichten und
  • Schwerbehinderung

vorzunehmen ist.
 

Arbeitgeber stellt Punkteschema auf

Ein Arbeitgeber hatte im Rahmen der betriebsbedingten Kündigung eines Teiles seiner Belegschaft eine Sozialauswahl durchzuführen. Dabei stellte er folgendes Punkteschema auf:

  • Betriebszugehörigkeit: 1 Punkt je vollem Beschäftigungsjahr
  • Lebensalter: 1 Punkt für jedes vollendete Lebensjahr
  • Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern und Ehegatten/Lebenspartnern: je 8 Punkte für jedes unterhaltsberechtigte Kind bzw. je 8 Punkte für den unterhaltsberechtigten Ehegatten/Lebenspartner
  • Schwerbehinderung: 5 Punkte ab einem Grad der Behinderung von 50 % und jeweils einen weiteren Punkt für jede 10 % des GdB bei Überschreiten von einem Behinderungsgrad von 50 %

Auswahl zwischen zwei Arbeitnehmern

Der Arbeitgeber hatte sich zwischen zwei Lagerarbeitern (LA) zu entscheiden.
 
  

AlterBetriebszugehörigkeitUnterhaltspflichtSchwerbehinderung
LA 156 Jahre22 Jahrekeinenein
LA 2 44 Jahre2 JahreFrau, 3 Kindernein


 
Nach dem Punkteschema kamen beide Arbeitnehmer auf 78 Punkte.
Der Arbeitgeber entschied sich nach einer abschließenden Gesamtwürdigung dafür,
LA 2 zu bevorzugen.
 

Der benachteiligte Kollege wehrt sich

Er klagte beim Arbeitsgericht und wollte geklärt haben, ob diese Entscheidung des Arbeitgebers in Ordnung ist.
Die Auswahl seines Kollegen sei fehlerhaft. Denn sie sei darauf zurückzuführen, dass der Arbeitgeber aufgrund des Punkteschemas dem Kriterium „Unterhaltspflichten“ im Verhältnis zu den Kriterien „Lebensalter“ und „Betriebszugehörigkeit“ zu viel Gewicht beigemessen habe. Schließlich habe jedes Jahr des Lebens und der Zugehörigkeit zum Betrieb nur einen Punkt bekommen. Dagegen seien 8 Punkte pro Person, für die eine Unterhaltspflicht besteht, unangemessen hoch.
 
Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Das Landesarbeitsgericht sah dagegen die Sozialauswahl als fehlerhaft an und gab dem Kläger Recht. Gegen dieses Urteil legte der Arbeitgeber Revision zum Bundesarbeitsgericht ein.
 

Ausreichende Berücksichtigung

Das Bundesarbeitsgericht weist in seinem Urteil zunächst auf den Wortlaut des Gesetzes hin. Dort ist geregelt, dass Arbeitgeber die einzelnen Auswahlkriterien „ausreichend“ berücksichtigen müssen. Daraus folgern die Bundesrichter*innen, dass dem Arbeitgeber bei der Gewichtung der einzelnen Kriterien ein „Wertungsspielraum“ zustehe. Denn dem Gesetz sei nicht zu entnehmen, wie die sozialen Gesichtspunkte zueinander ins Verhältnis zu setzen seien. Einerseits komme keinem Kriterium von vorn herein eine größere Bedeutung zu als den anderen. Andererseits sei eine gleichmäßige Gewichtung aller Kriterien nicht zwingend.
 

Nur deutlich schutzwürdigere Arbeitnehmer*innen haben Erfolg

Aus dem Wertungsspielraum des Arbeitgebers  - so das Bundesarbeitsgericht weiter  -  folge, dass sich nur der deutlich schutzwürdigere Arbeitnehmer mit Erfolg auf einen Auswahlfehler berufen können. Denn der Arbeitgeber sei lediglich gehalten, die individuellen Unterschiede zwischen den vergleichbaren Arbeitnehmern und deren Sozialdaten zu berücksichtigen und abzuwägen. Dagegen sie nicht erforderlich, dass der Arbeitgeber die „bestmögliche“ Sozialauswahl vornimmt.
 

Kläger nicht deutlich schutzwürdiger

Das Bundesarbeitsgericht stellt für die Frage der deutlich größeren Schutzwürdigkeit des Klägers auf die individuelle Abschlussprüfung des Arbeitgebers ab. Diese bewege sich im Rahmen seines Wertungsspielraums. So dürfe er dabei berücksichtigen, dass ältere Arbeitnehmer durch das Abstellen auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit und das Lebensalter überproportional begünstigt sein können. Und er dürfe deshalb auch ein Punkteschema entwickeln, das die Unterhaltsverpflichtungen höher bewerte als das Alter und die Betriebszugehörigkeit. Darauf, ob dieses Punkteschema  - für sich betrachtet  - die im Gesetz genannten Auswahlkriterien im Verhältnis zueinander entsprechend den gesetzlichen Anforderungen gewichtet, komme es nicht an.
Im Ergebnis habe der Arbeitgeber deshalb die im Gesetz genannten Kriterien ausreichend berücksichtigt.
Damit war die Sozialauswahl des Arbeitgebers nicht zu beanstanden. Es bleibt also dabei, dass der Kollege des Klägers als „Sieger“ aus der Sozialauswahl hervorgeht.
 
Hier finden Sie das vollständige Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 18.09.2018  AZ:  9 AZR 20/18

Rechtliche Grundlagen

§ 1 (3) Kündigungsschutzgesetz - Sozial ungerechtfertigte Kündigungen

(3) Ist einem Arbeitnehmer aus dringenden betrieblichen Erfordernissen im Sinne des Absatzes 2 gekündigt worden, so ist die Kündigung trotzdem sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat; auf Verlangen des Arbeitnehmers hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Gründe anzugeben, die zu der getroffenen sozialen Auswahl geführt haben. In die soziale Auswahl nach Satz 1 sind Arbeitnehmer nicht einzubeziehen, deren Weiterbeschäftigung, insbesondere wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt. Der Arbeitnehmer hat die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung als sozial ungerechtfertigt im Sinne des Satzes 1 erscheinen lassen.