Der Amtsarzt sollte es richten. © Adobe Stock: eggeeggjiew
Der Amtsarzt sollte es richten. © Adobe Stock: eggeeggjiew

Nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst war das Arbeitsverhältnis des Klägers nicht mehr kündbar. Differenzen mit dem Arbeitgeber bestanden aber schon seit Jahren. 2013 hatte es bereits eine Kündigung gegeben, die das Arbeitsgericht für unwirksam erklärte. 2014 erkrankte der Kläger dann. Seither stritt der Mann mit dem Arbeitgeber über seine Leistungsfähigkeit im Arbeitsverhältnis.

 

Eine Wiedereingliederung war 2016 aus Sicht des Arbeitgebers gescheitert. Es kam zur Freistellung des Klägers von der Arbeitsleistung. Auch hier entschied das Arbeitsgericht zugunsten des Betroffenen. Der Weiterbeschäftigung stand nichts mehr im Wege.

 

Damit jedoch nicht alles

 

Ein zwischenzeitlich durchgeführtes Coaching-Verfahren unter Einbeziehung des Integrationsamtes brachte keinen Erfolg. Der Arbeitgeber kündigte 2017 erneut und zwar außerordentlich, also fristlos, mit sozialer Auslauffrist.

 

Der gelernte Verwaltungsfachwirt wollte sich damit nicht abfinden und erhob Klage. Auch diesen Prozess gewann er. Nach weiteren Schwierigkeiten und einer Abmahnung 2021 führten der Bürgermeister und der Personalleiter des Arbeitgebers ein Gespräch mit dem Mitarbeiter. Während des Gespräches erlitt der Mann einen Herzinfarkt und war anschließend arbeitsunfähig krank. Im März 2022 führte er eine Reha-Maßnahme durch, auf die eine Wiedereingliederung erfolgen sollte.

 

Der Arbeitgeber hatte Bedenken

 

Der Mitarbeiter habe geäußert, keine Arbeiten unter Druck leisten zu können. Es gebe jedoch keine vertragsgemäßen Tätigkeiten, die nicht mit einem gewissen Druck verbunden seien. Die vorgesehene stufenweise Wiedereingliederung sei deshalb ausgeschlossen. Tätigkeiten ohne Druck gebe es nicht. Zumindest müsse am Ende einer stufenweisen Wiedereingliederung geprüft werden, ob der Kläger den Aufgaben gewachsen sei oder nicht. Es könne nicht sein, dass die Wiedereingliederung nahtlos ohne Prüfung des Ergebnisses wieder in das Arbeitsverhältnis einmünde.

 

Die Reha-Maßnahme des Klägers endete im April 2022. Der Entlassungsbericht stellte ein Leistungsvermögen von täglich 6 Stunden und mehr mit nur geringen Einschränkungen fest. Für die Alltagsanforderungen bestehe eine normale Belastbarkeit, hieß es darin. Der Kläger war noch bis Mai 2022 arbeitsunfähig krankgeschrieben und nahm anschließend seinen Erholungsurlaub bis Juli 2022 in Anspruch.

 

Der Kläger sollte den Amtsarzt aufsuchen

 

Zuvor forderte der Arbeitgeber ihn auf, seine Arbeitsfähigkeit durch eine amtsärztliche Bescheinigung nachzuweisen. Die Beklagte vereinbarte einen Termin beim Amtsarzt. Diesen Termin sagte der Kläger wegen eines positiven Corona-Tests ab. Die Beklagte vereinbarte daraufhin einen erneuten Amtsarzt-Termin. Auch diesen Termin nahm der Kläger nicht wahr. Dem Gesundheitsamt teilte er mit, er müsse den Termin kurzfristig absagen, da mit der Beklagten noch verschiedene Sachverhalte zu klären seien.

 

Daraufhin erteilte die Beklagte dem Kläger eine erneute Abmahnung. Gleichzeitig bot sie ihm einen neuen Arzttermin an. Auch diesen Termin nahm der Kläger nicht wahr. Daraufhin beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Klägers, die auch erteilt wurde.

 

Es kam, wie es kommen musste

 

Der Arbeitgeber kündigte erneut fristlos mit sozialer Auslauffrist – und das wieder ohne Erfolg. Vertreten durch die Jurist:innen des DGB Rechtsschutzbüros Gießen konnte der Kläger dem Arbeitgeber Fehler im Verfahren nachweisen, die die Kündigung rechtsunwirksam machten.

 

Dabei ging es vor allem darum, ob das Ergebnis des Reha-Verfahrens ausreichte, um die Beschäftigung wieder aufnehmen zu dürfen oder ob der Arbeitgeber den Kläger zur Untersuchung beim Amtsarzt zwingen durfte.

 

Der Bürgermeister hatte darauf verwiesen, der Kläger dürfe ausweislich der früheren ärztlichen Feststellungen bei einer weiteren Beschäftigung keinem Druck ausgesetzt sein und nicht mit schwerwiegenden Gesprächen belastet werden, insbesondere nicht solchen mit dem Bürgermeister und dem Büroleiter. Damit sei eine Beschäftigung des Klägers nicht möglich. Mit der Entgeltgruppe 9 TVöD sei der Kläger hierarchisch nah am Bürgermeister und am Büroleiter angesiedelt. Gespräche mit Bürgermeister und Büroleiter seien damit unvermeidlich.

 

Aufgaben der Entgeltgruppe 9 seien verantwortungsvolle Aufgaben, auch mit Publikumsverkehr. Im Bedarfsfalle müsse der Kläger auch dem Gemeindevorstand Rede und Antwort stehen, wenn dort Punkte beraten würden, die in sein Aufgabengebiet fielen. Publikumsverkehr in der Verwaltung verlaufe nicht immer freundlich. Die sachbearbeitenden Mitarbeiter:innen stünden dabei zwangsläufig in einer Drucksituation. Auch bei Erläuterungen im Gemeindevorstand seien kontroverse Diskussionen und kritische Rückfragen zu erwarten, die Druck erzeugten.

 

Es fehlt an einem wichtigen Grund zur Kündigung

 

Im tarifvertraglich unkündbaren Arbeitsverhältnis ist eine Kündigung aus wichtigem Grund möglich, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Arbeitgeber unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann.

 

Ein wichtiger Grund im Fall des hiesigen Verwaltungsangestellten liege jedoch nicht vor. So entschied es das Arbeitsgericht Gießen.

 

Grundsätzlich könne die Verletzung der tarif- oder einzelvertraglich geregelten Nebenpflicht aus dem Arbeitsverhältnis – z.B. bei gegebener Veranlassung auf Wunsch des Arbeitgebers an einer ärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Arbeitsfähigkeit mitzuwirken - geeignet sein, einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung darzustellen. Sie könne daher je nach den Umständen eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen.

 

Der TVöD enthält Regeln zur Vorlage ärztlicher Bescheinigungen

 

§ 3 Abs. 4 TVöD berechtige den Arbeitgeber bei begründeter Veranlassung, den:die Beschäftigten zu verpflichten, durch Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung nachzuweisen, dass er:sie zur Leistung der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit in der Lage ist.

 

Der Kläger sei jedoch nicht verpflichtet gewesen, sich einer amtsärztlichen Untersuchung zu unterziehen, da die Voraussetzungen des § 3 Abs. 4 TVöD nicht vorgelegen hätten. Es mangele an dem tariflichen Merkmal „begründete Veranlassung". Die Pflicht, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen und persönliche Lebenssachverhalte zu offenbaren, berühre den Schutzbereich der Grundrechte aus Art. 1 GG und Art. 2 GG, also die Würde des Menschen und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.

 

Bei der Auslegung der Tarifnorm des § 3 Abs. 4 TVöD sei das zu berücksichtigen. Der Arbeitgeber dürfe deshalb nur aus gegebenem Anlas, d.h. bei berechtigten Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit eine Mitwirkung an einer ärztlichen Untersuchung einfordern.

 

Es müssen objektive Umstände vorliegen

 

Die Aufforderung zur Untersuchung müsse auf objektiven Umständen basieren, die bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründeten, Arbeitsfähigkeit liege nicht vor und Arbeitsunfähigkeit erscheine daher naheliegend. Solche tatsächlichen Anhaltspunkte könnten sich z. B. aus einer ärztlichen Bescheinigung, einer mit anderer Zielrichtung durchgeführten arbeitsmedizinischen Untersuchung oder aus hohen Krankheitszeiten, gegebenenfalls verbunden mit Tauglichkeitseinschränkungen während der Zeiten der Arbeitsfähigkeit ergeben. Daran fehle es vorliegend.

 

Selbst, wenn der Kläger im Verfahren angegeben habe, ihm sei „in der Reha" gesagt worden, bei einer weiteren Beschäftigung dürfe er keinem „Druck" ausgesetzt sein und dürfe nicht mit „schwerwiegenden Gesprächen" belastet werden - insbesondere keine Gespräche mit dem Bürgermeister und dem Büroleiter - genüge dies nicht, um die ernsthafte Besorgnis einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit zu begründen.

 

Zum einen erscheine es schon nicht naheliegend, dass Tätigkeiten mit Entgeltgruppe 9 ausnahmslos mit „Druck" (was auch immer man konkret darunter verstehen möge) verbunden sein müsse. Zum anderen habe sich die vom Kläger möglicherweise geäußerte Einschränkung ausschließlich auf „schwerwiegende" Gespräche mit dem Bürgermeister und dem Büroleiter bezogen. Dass der Kläger generell nicht mehr mit den Beiden reden könne, trage selbst die Beklagte nicht vor.

 

Auch aus dem Reha-Bericht ergibt sich nichts Negatives

 

Insbesondere enthalte jedoch auch der Reha-Entlassungsbericht explizit nicht die von der Beklagten befürchtete Leistungseinschränkung. Weder im positiven noch im negativen Leistungsbild fänden sich Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nicht im Stande sei, Gespräche mit dem Bürgermeister zu führen oder Arbeiten unter Druck auszuüben.

 

Etwaige Unklarheiten oder Zweifel in Bezug auf mögliche zusätzliche Leistungseinschränkungen hätte die Beklagte gegebenenfalls im Rahmen eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) - welches sie entgegen ihrer gesetzlichen Verpflichtung aus § 167 Abs. 2 SGB IX unterlassen habe - klären können. Dies sei bedauerlicherweise nicht geschehen.

 

Nachdem der Kläger mit einem positiven Befund aus der Rehabilitationseinrichtung entlassen und keine nennenswerten Leistungseinschränkungen attestiert worden seien, habe die Beklagte von einer begründeten Veranlassung für eine amtsärztliche Untersuchung nicht ausgehen dürfen.

 

Es könne deshalb dahinstehen, ob die Kündigung zusätzlich auch deshalb unverhältnismäßig gewesen sei, weil die Beklagte es unterlassen habe, ein BEM durchzuführen und hierdurch eine Kündigung möglicherweise hätte vermeiden können. Weiterhin sei fraglich, ob vor dem Hintergrund einer fast 40-jährigen Betriebszugehörigkeit und drei Unterhaltspflichten der Ausspruch einer einzigen einschlägigen Abmahnung für eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses ausreiche.