In dem vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) entschiedenen Fall ging es um die
Auslegung des spanischen Massenentlassungsrechts.

Aufhebungsverträge als „Entlassungen“?

Der gekündigte Arbeitnehmer, machte geltend, dass das beklagte Unternehmen versäumte hätte, das Verfahren für eine Massenentlassung durchzuführen. Er begründete die Klage damit, dass der maßgebliche Schwellenwert erreicht worden sei, da auch die Entlassung befristet Beschäftigter und die Beendigung von Arbeitsverträgen durch Aufhebungsverträge hätten berücksichtigt werden müssen.


Denn zu dem Abschluss von Aufhebungsverträgen sei es nur deshalb gekommen, weil der Beklagte das Festgehalt der Beschäftigten um 25 Prozent habe kürzen wollen und die hiervon betroffenen Arbeitnehmer*innen nicht einverstanden gewesen seien.

Das mit dem Ausgangsverfahren befasste spanische Gericht legte dem EuGH unter anderem die Fragen zur Vorabentscheidung vor, ob auch befristet beschäftigte Arbeitnehmer*innen zu den "in der Regel" im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer*innen im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie gehören und ob auch die Aufhebung eines Arbeitsvertrags eine Entlassung im Sinne der Richtlinie sein kann. Der EuGH bejahte dies.

Massenentlassungsanzeige nicht nur bei betriebsbedingten Kündigungen!

Der EuGH kam in seiner Entscheidung vom 11.11.2015 zu dem Ergebnis, dass auch Arbeitnehmer*innen mit einem für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossenen Vertrag zu den Arbeitnehmer*innen gehören, die im Sinne der Richtlinie 98/59/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen "in der Regel" in dem Betrieb beschäftigt sind.

Bei der Nichtberücksichtigung dieser Arbeitnehmer*innen bestünde die Gefahr, dass allen Arbeitnehmer*innen des Betriebs die ihnen durch die Richtlinie eingeräumten Rechte vorenthalten würden, was die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie beeinträchtigen würde.

Keine Berücksichtigung im Hinblick auf die Feststellung, ob eine "Massenentlassung" im Sinne der Richtlinie vorliegt, finden indes Arbeitnehmer*innen deren Verträge durch regulären Ablauf enden.

Was bedeutet Schwellenwert?

Im Rahmen von Entlassungen von Arbeitnehmer*innen ist der Arbeitgeber ab Erreichen bestimmter Schwellenwerte verpflichtet eine Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit anzuzeigen. Diese Verpflichtung ergibt sich aus § 17 (1) Kündigungsschutzgesetz (KSchG), der wie folgt lautet:
(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er
1. in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer,
2. in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer,
3. in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer
innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Den Entlassungen stehen andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses gleich, die vom Arbeitgeber veranlasst werden.

Durch Aufhebungsverträge kann der Schwellenwert erreicht werden.

Im Sinne der Richtlinie liegt eine Entlassung auch dann vor, wenn ein Arbeitgeber einseitig die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer*innen verschlechtert und es hieraufhin zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Abschlüsse von Aufhebungsverträgen kommt.


Der EuGH stellt mit seiner jüngsten Entscheidung klar, dass der Begriff der Entlassung nach der Zielsetzung der Richtlinie, die insbesondere den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen verstärken soll, nicht eng ausgelegt werden darf.

Es sind somit auch Fälle zu berücksichtigen, in denen Arbeitnehmer in anderer Weise als durch eine Kündigung aus dem Arbeitsverhältnis gedrängt werden.

 

Anmerkung:


Eine erfreuliche Entscheidung des EuGH, wonach auch befristet beschäftigte Arbeitnehmer*innen zu den "in der Regel" im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmern im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie gehören und auch die Aufhebung eines Arbeitsvertrags eine Entlassung im Sinne der Richtlinie sein kann.

Diese Entscheidung sollte in der betrieblichen Praxis unbedingt Beachtung finden. Betriebsräte, die sich mit betriebsbedingten Kündigungen zu befassen haben, sollten dann, wenn die Anzahl der Kündigungen unter dem Schwellenwert im Sinne des § 17 Kündigungsschutzgesetz liegt, sich kundig machen, ob und in welchem Umfang es zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen kam, ohne dass eine Kündigung ausgesprochen wurde (z.B. Aufhebungsvertrag).

Ergibt die Addition der gekündigten und der aus sonstigen Beendigungsgründen ausscheidenden Arbeitnehmer*innen, dass die Gesamtzahl der aus betrieblichen Gründen ausgeschiedenen Beschäftigten den Schwellenwertes erreicht hat und erfolgt keine Massenentlassungsanzeige, so sind die ausgesprochenen Kündigungen rechtsunwirksam.

 

Link zur EuGH-Pressemitteilung vom 11.11.2015:

 

Link zum Volltext der Entscheidung: