Der EuGH legt beim Schwellenwert für die Massenentlassungsanzeige eine betriebsbezogene Betrachtung zu Grunde – damit gilt die Pflicht nur in wenigen
Der EuGH legt beim Schwellenwert für die Massenentlassungsanzeige eine betriebsbezogene Betrachtung zu Grunde – damit gilt die Pflicht nur in wenigen

Im aktuellen Verfahren hatten eine Arbeitnehmerin und eine britische Gewerkschaft gegen die britische Warenhauskette Woolworth geklagt. Dort gab es in Folge wirtschaftlicher Schwierigkeiten betriebsbedingte Kündigungen in mehreren Filialen.

 

Die Kläger verlangen Entschädigungszahlungen, da das aufgrund einer EU-Richtlinie vorgesehene Konsultationsverfahren für Massenentlassungen nicht eingehalten worden sei.

 

In erster Instanz unterlagen insgesamt 4.500 ehemalige Mitarbeiter, da sie jeweils in Filialen mit weniger als 20 Mitarbeitern beschäftigt waren – damit war die erforderliche Schwelle nicht erreicht.

 

Betriebsbegriff ist entscheidend

 

Zum Hintergrund: Die EU-Richtlinie 98/59/EG v. 20.7.1998 sieht bei Entlassungen von mindestens 20 Beschäftigten besondere Informations- und Konsultationspflichten mit Arbeitnehmervertretern vor.

 

Die Mitgliedsstaaten haben diese Richtlinie jeweils unterschiedlich ausgelegt. Fraglich war nun in dem Verfahren, ob sich der Wortlaut »mindestens 20 Mitarbeiter« auf einen Betrieb bezieht oder auf sämtliche Betriebe des Arbeitgebers.

 

Denn legt man die Gesamtzahl der Entlassungen zugrunde, die zum selben Termin in allen Filialen eines Unternehmens stattfinden, so würde die Zahl der Arbeitnehmer erheblich steigen, die in den Genuss des Schutzes der Richtlinie gelangen. Dies wiederum entspräche den mit der Richtlinie verfolgten Zielen.

 

Betrieb entspricht einer Filiale

 

Die Richter stellten zunächst fest, dass ein »Betrieb« ein unionsrechtlicher Begriff sei und nicht anhand der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten zu bestimmen ist, sondern in der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich auszulegen sei. Er könne als Einheit definiert werden, dem die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgaben zugewiesen sind.

 

Somit entspricht der Betriebsbegriff wohl eher einer Filiale, weniger dem gesamten Einzelhandelsunternehmen. Die Auslegung der Wendung »mindestens 20« erfordere es dann, »Entlassungen in jedem Betrieb für sich genommen zu berücksichtigen«, so die Richter.

 

Das bedeutet also: nur wenn in einer Filiale mindestens 20 Mitarbeiter die Kündigung erhalten, greifen die Vorschriften einer Massenentlassung.

 

Entsetzen im Europäischen Parlament

 

Jutta Steinruck (SPD), Mitglied des Europäischen Parlaments, bezeichnete die Sichtweise, die in dem Urteil zum Ausdruck komme, als »erschreckend«. Entließen große Handelsketten in ihren Filialen tausende von Beschäftigten, müssten ihre »wenigen Rechte« wenigstens anerkannt bleiben.

 

Jede Einheit als gesonderten Betrieb zu bezeichnen, sei ein »Schlag ins Gesicht« der Arbeitnehmer. Das Urteil zeige, dass »wir auch diese Richtlinie auf europäischer Ebene dringend reformieren und einen höchstmöglichen Schutz von Arbeitnehmern bei Massenentlassungen sicherstellen müssen«.

 

Folgen für die Praxis

 

Die europäische Richtlinie zu Massenentlassungen (RL 98/59/EG) gehört zu den ältesten Richtlinien der Europäischen Union zum Arbeitsrecht. Die sozialen Auswirkungen eines umfangreichen Personalabbaus in einem Unternehmen auf die hiervon betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie deren Familien können gravierend sein.

 

Daher hat der europäische Gesetzgeber bereits im Jahre 1975 dieses wichtige Themenfeld erkannt und einheitliche Regelungen formuliert, auch wenn es sich im Ergebnis lediglich um verpflichtende Verfahren zur Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter und Anzeigeverfahren gegenüber staatlichen Stellen handelt.

 

Das Recht des Arbeitgebers, Massenentlassungen nach freier Entscheidung durchzuführen wird durch die Richtlinie nicht beeinträchtigt. Die Vorschriften der Richtlinie haben im deutschen Arbeitsrecht in § 17 KSchG ihren Niederschlag gefunden.

 

Nach der Rechtsprechung ist eine vor Ausspruch einer Kündigung ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige Voraussetzung für deren Wirksamkeit. Hierzu gehört auch die vorherige Unterrichtung des Betriebsrats.

 

Erfolgt die Konsultation der Arbeitnehmervertreter oder die Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit nicht oder nicht ordnungsgemäß sind die Kündigungen unwirksam. Auch verspätete Anzeigen führen zur Unwirksamkeit.

 

Der EuGH setzt seine Auslegung eines »Betriebs« auch mir der aktuellen Entscheidung fort. Der Betriebsbegriff wird weit ausgelegt, um der Richtlinie einen weiten Anwendungsbereich zu ermöglichen.

 

Allerdings kann im Einzelfall diese weite Auslegung die Anwendbarkeit der Richtlinie vergrößern oder aber einschränken. Nach der Größe eines »Betriebs« und damit der Anzahl der Beschäftigten richtet sich der zu erreichende Schwellenwert an auszusprechenden Kündigungen für die Anwendung der Richtlinie.

 

Um dem Schutzzweck der Richtlinie gerecht zu werden, wäre es im aktuellen Fall erforderlich nicht auf den einzelnen Kleinbetrieb abzustellen, sondern das Unternehmen als Ganzes zu betrachten. Die Entscheidung, mehrere Tausend Arbeitnehmer zu entlassen, trifft schließlich in der Regel die Konzernführung.

 

Trotz der aktuellen Entscheidung des EuGH bleibt den Arbeitgebern anzuraten, im Zweifel die einzelnen Betriebsteile bei der Berechnung des Schwellenwertes zu berücksichtigen und den Betriebsrat über eine Massenentlassung zu unterrichten.

 

Bei Fehlern begibt er sich sonst in das Risiko zur erheblichen Zahlung von Annahmeverzugslohn. Dies kann mit der (eingeforderten) Beachtung des Konsultationsverfahrens von Anfang an vermieden werden.

 

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: „AiB-Newsletter, Rechtsprechung für den Betriebsrat“ des Bund-Verlags, Ausgabe 12 vom 30. Juni 2015

Rechtliche Grundlagen

§ 17 KSchG Massenentlassungsanzeige

(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er

1. in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer,
2. in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer,
3. in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer
innerhalb von 30 Kalendertagen entläßt. Den Entlassungen stehen andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses gleich, die vom Arbeitgeber veranlaßt werden.

(2) Beabsichtigt der Arbeitgeber, nach Absatz 1 anzeigepflichtige Entlassungen vorzunehmen, hat er dem Betriebsrat rechtzeitig die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und ihn schriftlich insbesondere zu unterrichten über

1. die Gründe für die geplanten Entlassungen,
2. die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer,
3. die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer,
4. den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen,
5. die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer,
6. die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien.
Arbeitgeber und Betriebsrat haben insbesondere die Möglichkeiten zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern.

(3) Der Arbeitgeber hat gleichzeitig der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten; sie muß zumindest die in Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 bis 5 vorgeschriebenen Angaben enthalten. Die Anzeige nach Absatz 1 ist schriftlich unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrates zu den Entlassungen zu erstatten. Liegt eine Stellungnahme des Betriebsrates nicht vor, so ist die Anzeige wirksam, wenn der Arbeitgeber glaubhaft macht, daß er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach Absatz 2 Satz 1 unterrichtet hat, und er den Stand der Beratungen darlegt. Die Anzeige muß Angaben über den Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebes enthalten, ferner die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. In der Anzeige sollen ferner im Einvernehmen mit dem Betriebsrat für die Arbeitsvermittlung Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer gemacht werden. Der Arbeitgeber hat dem Betriebsrat eine Abschrift der Anzeige zuzuleiten. Der Betriebsrat kann gegenüber der Agentur für Arbeit weitere Stellungnahmen abgeben. Er hat dem Arbeitgeber eine Abschrift der Stellungnahme zuzuleiten.

(3a) Die Auskunfts-, Beratungs- und Anzeigepflichten nach den Absätzen 1 bis 3 gelten auch dann, wenn die Entscheidung über die Entlassungen von einem den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen getroffen wurde. Der Arbeitgeber kann sich nicht darauf berufen, daß das für die Entlassungen verantwortliche Unternehmen die notwendigen Auskünfte nicht übermittelt hat.

(4) Das Recht zur fristlosen Entlassung bleibt unberührt. Fristlose Entlassungen werden bei Berechnung der Mindestzahl der Entlassungen nach Absatz 1 nicht mitgerechnet.

(5) Als Arbeitnehmer im Sinne dieser Vorschrift gelten nicht

1. in Betrieben einer juristischen Person die Mitglieder des Organs, das zur gesetzlichen Vertretung der juristischen Person berufen ist,
2. in Betrieben einer Personengesamtheit die durch Gesetz, Satzung oder Gesellschaftsvertrag zur Vertretung der Personengesamtheit berufenen Personen,
3. Geschäftsführer, Betriebsleiter und ähnliche leitende Personen, soweit diese zur selbständigen Einstellung oder Entlassung von Arbeitnehmern berechtigt sind.