© Adobe Stock - Von hkama
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Neumann war in Teilzeit als Hausmeister in einer Grundschule eingesetzt. Sein Arbeitgeber war ein Gebäudeservice.

 

Kündigungsschutzverfahren endete mit Vergleich

 

Anfang 2018 erlitt Neumann einen Schlaganfall. Die Grundschule kündigte ihren Vertrag mit dem Gebäudeservice. Der Arbeitgeber kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis mit Neumann, der sich auf einen Vergleich einließ.

 

Neumann erhebt Schadensersatzklage

 

Wegen einer Diskriminierung aufgrund seiner Schwerbehinderung verlangt Neumann in einem weiteren Verfahren Schadensersatz nach § 15 AGG, den er mit 3.500 € beziffert.

 

Sein Problem ist: zum Zeitpunkt der Kündigung war er noch gar nicht schwerbehindert und hatte auch noch keinen Antrag gestellt. Ihn hatte der Schlaganfall schwer beeinträchtigt und er lag zunächst mit halbseitiger Lähmung auf einer Intensivstation.

 

Ist es Diskriminierung, wenn Verfahrensvorschriften ignoriert werden?

 

Neumann versucht, eine Hintertür des Gesetzes zu nutzen. Denn, wenn eine Schwerbehinderung offenkundig ist, dann muss ein Arbeitgeber das auch berücksichtigen. Seine spätere Betreuerin habe seinen Gesundheitszustand telefonisch bei Beginn seiner Erkrankung mitgeteilt und auch, dass es nicht klar sei, ob er überhaupt noch einmal arbeiten könne.

 

Verloren in allen drei Instanzen

 

Arbeitsgericht, Landesarbeitsgericht und zuletzt das Bundesarbeitsgericht wiesen die Klage ab.

BAG, Urteil vom 2. Juni 2022 - 8 AZR 191/21

 

Zwar gewähre das AGG eine Beweiserleichterung. Danach muss der Arbeitgeber beweisen, dass kein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz vorliegt, wenn der Arbeitnehmer Indizien für eine Benachteiligung vorgetragen hat.

 

Neumanns Vortrag reicht nicht aus

 

Hier hat es Neumann jedoch nicht geschafft, entsprechend vorzutragen. Eine offensichtliche Schwerbehinderung liegt nur dann vor, wenn es sich quasi aufdrängt, also für jeden unzweifelhaft zu erkennen ist, dass jemand schwerbehindert ist.

 

Selbst, wenn Neumanns Nachricht zu Beginn der Erkrankung nicht nur die Tatsache der Erkrankung enthielt, sondern die Schilderung der dramatischen "Krise", gibt es nach dem BAG keinen Erfahrungssatz, wonach nach jedem Schlaganfall eine Schwerbehinderung die Folge ist.

Die Kündigung erfolgte mehrere Wochen später und eine weitere konkretere Information des Arbeitgebers zu diesem Zeitpunkt über seinen Gesundheitszustand hat auch Neumann nicht behauptet.

 

BAG: Nichteinhalten der Verfahrensvorschriften lässt Diskriminierung vermuten

 

Auch wenn Neumann keinen Schadensersatz bekommen hat, ist die Entscheidung für Arbeitnehmer*innen interessant. Der Leitsatz des BAG lautet:

 

§ 168 SGB IX, wonach die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts bedarf, gehört zu den Vorschriften, die Verfahrenspflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten. Hat der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung die nach § 168 SGB IX erforderliche vorherige Zustimmung des Integrationsamts nicht eingeholt, kann dieser Umstand die Vermutung iSv. § 22 AGG begründen, dass die Benachteiligung, die der schwerbehinderte Mensch durch die Kündigung erfahren hat, wegen der Schwerbehinderung erfolgte.

 

Holt also ein Arbeitgeber, dem die Schwerbehinderung bekannt ist, nicht die Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung ein, wird nach dem BAG vermutet, dass die Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung erfolgte.

Denn die Nichteinhaltung von Pflichten gegenüber dem Schwerbehinderten sei grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein (z.B. BAG Urteil vom 25. November 2021 - 8 AZR 313/20).


Das sagen wir dazu:

Die Rechtsprechung macht also grundsätzlich ernst, um die Diskriminierung von Schwerbehinderten zu ahnden. Es sind viele andere Fälle denkbar, wo z.B. Schutzvorschriften für Schwerbehinderte nicht eingehalten werden, bei denen Schadensersatzansprüche denkbar sind. 

Rechtliche Grundlagen

§§ 1,15,22 AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz)

§ 1 Ziel des Gesetzes
Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.

§ 15 Entschädigung und Schadensersatz
(1) Bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot ist der Arbeitgeber verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen. Dies gilt nicht, wenn der Arbeitgeber die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.
(2) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Die Entschädigung darf bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
(3) Der Arbeitgeber ist bei der Anwendung kollektivrechtlicher Vereinbarungen nur dann zur Entschädigung verpflichtet, wenn er vorsätzlich oder grob fahrlässig handelt.
(4) Ein Anspruch nach Absatz 1 oder 2 muss innerhalb einer Frist von zwei Monaten schriftlich geltend gemacht werden, es sei denn, die Tarifvertragsparteien haben etwas anderes vereinbart. Die Frist beginnt im Falle einer Bewerbung oder eines beruflichen Aufstiegs mit dem Zugang der Ablehnung und in den sonstigen Fällen einer Benachteiligung zu dem Zeitpunkt, in dem der oder die Beschäftigte von der Benachteiligung Kenntnis erlangt.
(5) Im Übrigen bleiben Ansprüche gegen den Arbeitgeber, die sich aus anderen Rechtsvorschriften ergeben, unberührt.
(6) Ein Verstoß des Arbeitgebers gegen das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 begründet keinen Anspruch auf Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses, Berufsausbildungsverhältnisses oder einen beruflichen Aufstieg, es sei denn, ein solcher ergibt sich aus einem anderen Rechtsgrund.

§ 22 Beweislast
Wenn im Streitfall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat.