Der Kläger arbeitete seit Juli 2017 als Montagewerker für das beklagte Unternehmen. Im Jahr 2018 fehlte er an vier Arbeitstagen wegen Arbeitsunfähigkeit. Im Jahr 2019 war er an 49 Tagen arbeitsunfähig erkrankt, im Jahr 2020 an 188 Arbeitstagen.
In den ersten Jahren war der Kläger wegen verschiedener Diagnosen krankgeschrieben, ab Juni 2020 wegen Depressionen. Deswegen bestand Arbeitsunfähigkeit auch durchgängig bis Ende September des Folgejahres.
Im Oktober 2020 hatte der Arbeitgeber zu einem Betrieblichen Eingliederungsmanagement eingeladen, worauf der Kläger nicht reagierte.
Arbeitgeber und Arbeitsgericht gehen von einer negativen Prognose aus
Im September 2021 erhielt der Kläger die Kündigung und klagte dagegen mit Unterstützung des DGB Rechtsschutzes Hannover. Wegen der psychischen Erkrankung habe er sich in fachärztliche Behandlung begeben und eine Psychopharmakatherapie durchgeführt, die zu seiner Gesundung geführt habe.
Das Arbeitsgericht Hannover hat die Klage abgewiesen. Die Kündigung sei gerechtfertigt, da die Fehlzeiten des Klägers für die Kalenderjahre 2019 bis 2021 mit derart vielen Diagnoseschlüsseln so erheblich sein, dass das Gericht die negative Prognose des Arbeitgebers teile.
Berufung beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Der DGB Rechtsschutz griff die Entscheidung des Arbeitsgerichts an. Rechtsfehlerhaft habe das Gericht angenommen, die mittelgradige depressive Episode des Klägers begründe eine negative Gesundheitsprognose. Denn die Therapien hätten den Kläger stabilisiert und auch zu einem Ende der psychischen Erkrankung geführt. Ab August 2021, und damit vor dem Zeitpunkt der Kündigung, habe sich eine erhebliche Verbesserung des Gesundheitszustandes des Klägers bemerkbar gemacht. Er habe langsam wieder angefangen, Sport zu treiben und seine sozialen Kontakte aufzunehmen. Bei seinem Arbeitgeber habe er sich jedoch erst melden wollen, wenn er vollständig genesen war.
Das beklagte Unternehmen bestritt eine Genesung des Klägers
Da die Ursache der Depression in einer als belastend empfundenen Situation am Arbeitsplatz liege, sei zudem damit zu rechnen, dass der Kläger bei einer Rückkehr an seinen Arbeitsplatz erneut eine Depression erleide.
Maßstab für eine negative Gesundheitsprognose war, ob zum Zeitpunkt der Kündigung zu erwarten war, der Kläger werde innerhalb der nächsten 24 Monate nicht von der depressiven Erkrankung gesunden und somit innerhalb dieses Zeitraums nicht wieder arbeitsfähig sein.
Anders als beim Arbeitsgericht verließen sich die Richter:innen beim Landesarbeitsgericht (LAG) nicht allein auf ihre eigene Einschätzung. Es wurde Beweis erhoben über die Behauptung des Arbeitgebers, der Kläger sei prognostisch zum Zeitpunkt der Kündigung auf Dauer, jedenfalls aber für die nächsten 24 Monate, krankheitsbedingt außer Stande gewesen, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Dafür erstellte ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ein Gutachten.
Ein ärztliches Gutachten hielt das LAG für erforderlich, da das einmalige Auftreten einer depressiven Erkrankung noch nicht indiziere, dass sie in Zukunft häufiger auftreten und regelmäßig jährlich zu entsprechenden Entgeltfortzahlungskosten führen werde.
Einholung eines Sachverständigengutachtens wird in zweiter Instanz nachgeholt
Der Sachverständige diagnostizierte beim Kläger einen Zustand nach mittelschwerer depressiver Episode. Wichtig dabei: Depressive Episoden bildeten sich meist zurück, ohne dass eine bleibende Leistungseinschränkung zurückbleibe. Zum Zeitpunkt der Begutachtung hätten sich bei dem Kläger aus psychiatrischer Sicht keine Symptome einer depressiven Erkrankung oder einer anderen psychischen Erkrankung gefunden. Aus gutachterlicher Sicht könne deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Kündigung im September 2021 prognostisch auf Dauer, jedenfalls aber für die nächsten 24 Monate, krankheitsbedingt außer Stande gewesen sei, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen.
Einwendungen des Arbeitgebers gegen das Gutachten greifen nicht durch
Das beklagte Unternehmen war mit dem Ergebnis des sachverständigen Arztes nicht einverstanden, und rügte, dass der Gutachter keine Tests oder wenigstens indirekte Fragen gestellt habe. Das überzeugte das LAG nicht. Im Urteil heißt es dazu:
Psychische Erkrankungen betreffen innere Zustände des Patienten, die einer objektiven, äußerlichen Evaluation und Untersuchung in der Regel nicht zugänglich sind. Erkenntnisquelle ist somit allein der Patient selbst. Wie der Gutachter sich dem Patienten nähert, um Informationen über dessen inneren Zustand zu erlangen, ist grundsätzlich dem Gutachter selbst überlassen, sofern er dabei nicht die Regeln anerkannter ärztlicher Methoden verletzt.
Die Einschätzung des Gutachters war für das LAG auch nachvollziehbar. Der Facharzt habe schlüssig dargestellt, welche Methoden er angewandt, welche Erkenntnisse er dabei über den Gesundheitszustand des Klägers gewonnen habe und welche Schlüsse aus diesen Erkenntnisse hinsichtlich der Beweisfrage zu ziehen seien.
Maßgebliche Grundlage für personenbedingte Kündigung liegt nicht vor
Das LAG kam so zu diesem Ergebnis: Zu Unrecht habe das Arbeitsgericht angenommen, das Arbeitsverhältnis sei durch die streitige Kündigung beendet worden. Personenbedingte Gründe, die die Kündigung hinreichend sozial zu rechtfertigen vermöchten, lägen nicht vor.