Zeigt ein Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber bei der Staatsanwaltschaft an, ist dies nur dann eine kündigungsrelevante Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Pflichten, wenn die Anzeige eine unverhältnismäßige Reaktion auf ein Verhalten des Arbeitgebers darstellt.

Welcher Sachverhalt lag dem Urteil des Landesarbeitsgericht zu Grunde?


Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers.

Der Kläger ist seit September 1992 als Meister im Werkzeugbau/Kunststoff bei der Beklagten, einem Unternehmen mit ca. 1.400 bis 1.500 Arbeitnehmern, beschäftigt. Er genießt tariflichen Sonderkündigungsschutz vor ordentlichen Kündigungen. Seit 2003 versuchte die Arbeitgeberin mehrfach, das Arbeitsverhältnis zu dem Kläger durch Kündigung zu beenden. Die Parteien führten seither insgesamt sechs Kündigungsschutzverfahren, die rechtskräftig abgeschlossen sind und in denen der Kläger jeweils erfolgreich war.

Der Kläger beantragte 2009 bei der Staatsanwaltschaft die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Geschäftsführer sowie weitere Mitarbeiter der Arbeitgeberin. Er äußerte und belegte den Verdacht, in den Kündigungsschutzverfahren könnten Prozessbetrug und Urkundenfälschung begangen worden sein. Die Staatsanwaltschaft Siegen stellte das Verfahren ein. Gegen diese Entscheidung legte der Kläger Beschwerde ein.

In Folge hörte die Beklagte den bei ihr bestehenden Betriebsrat zu einer weiteren beabsichtigten fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers. Der Betriebsrat äußerte in seiner Stellungnahme »größtmögliche Bedenken gegen diese fristlose Kündigung«.
Mit Schreiben vom 09.06.2009 kündigte die Beklagte das Anstellungsverhältnis erneut »außerordentlich aus wichtigem Grund zum heutigen Tag«.

Nachdem der Kündigungsrechtsstreit um die sechste Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers abgeschlossen war, erstattete die Vorsitzende der 17. Kammer des Landesarbeitsgerichts Hamm bei der Staatsanwaltschaft Siegen Strafanzeige gegen die Arbeitgeberin wegen versuchten Prozessbetrugs.

Wie hat das Landesarbeitsgericht entschieden?

 

Das LAG gab, wie schon zuvor das Arbeitgericht Siegen, dem Arbeitnehmer Recht. Das Arbeitsgericht habe zutreffend die Feststellung getroffen, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 09.06.2009 nicht aufgelöst ist und die Beklagte den Kläger als Meister zu unveränderten Bedingungen weiterbeschäftigten muss.
Zwar könne, so das LAG, eine Strafanzeige des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber oder dessen Repräsentanten erstattete Strafanzeige eine kündigungsrelevante Verletzung arbeitsvertraglicher Nebenpflichten und damit einen wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung darstellen (vgl. z. B. die Entscheidung des BAG v. 07.12.2006 – 2 AZR 400/05). Denn den Arbeitnehmer trifft aus dem Arbeitsverhältnis eine vertragliche Rücksichtnahmepflicht (§ 241 Abs. 2 BGB). Unter Berücksichtigung der Umstände des vorliegenden Einzelfalls sei allerdings ein fristloser Kündigungsgrund nicht gegeben.
Die Strafanzeige des Klägers rechtfertige in ihrem Wortlaut nicht die Annahme, der Kläger habe gegenüber der Staatsanwaltschaft wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht. Wenn ein Arbeitsverhältnis innerhalb von gut fünf Jahren sechs Mal gekündigt wird und sich sämtliche Kündigungen als unwirksam erweisen, kann es kaum mehr verwundern, dass die gekündigte Person ob der rechtsgrundlos erklärten Kündigungen gegenüber ihrem Arbeitgeber misstrauisch wird, in ihr der Verdacht eines Prozessbetrugs erwächst und sie Hilfe bei den staatlichen Ermittlungsbehörden sucht. betont das LAG. Die schriftliche Anzeige enthalte auch keine wissentlich oder leichtfertig falschen Angaben.
Die Erstattung der Strafanzeige stellt deshalb keine unverhältnismäßige Reaktion des Klägers auf das Verhalten der Beklagten dar, ebenso nicht die Beschwerde gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, das erste Ermittlungsverfahren einzustellen. Auch der Eindruck der Vorsitzenden Richterin im Berufungsverfahren um die sechste  Kündigung, der Vortrag der beklagten Arbeitgeberin könne als Prozessbetrug zu werten sein, zeigt, dass die Strafanzeige des Klägers keine unverhältnismäßige Reaktion darstellt. Diese Umstände lassen eine fristlose Kündigung nicht mehr billigenswert und angemessen nach dem Prüfungsmaßstab der höchstrichterlichen Rechtsprechung erscheinen.

Das Urteil des Landesarbeitsgericht Hamm vom 03.11.2011, 15 Sa 708/11