Tarifverträge dürfen die Möglichkeit einschränken, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, indem sie einen ausreichend langen Übertragungszeitraum vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch erlischt. Ein Zeitraum von 15 Monaten ist europarechtskonform.
In einem deutschen Tarifvertrag ist geregelt, dass der Anspruch auf bezahlten Urlaub 30 Tage im Jahr beträgt. Dieser Tarifvertrag erlaubt die Abgeltung nicht genommenen Jahresurlaubs nur bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses und sieht vor, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, der wegen Krankheit nicht genommen wurde, nach Ablauf einer Übertragungsfrist von 15 Monaten nach dem Bezugszeitraum (Kalenderjahr) erlischt. Im Jahr 2002 erlitt der klagende Arbeitnehmer einen Infarkt. Er ist seitdem schwerbehindert und arbeitsunfähig. Bis August 2008, dem Zeitpunkt, zu dem sein Arbeitsverhältnis mit dem Unternehmen endete, bezog er eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Auf seine Klage auf Abgeltung des nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs für die Jahre 2006, 2007 und 2008, in denen er krankgeschrieben war und nicht die Möglichkeit hatte, seinen Urlaub anzutreten hat zuletzt das Landesarbeitsgericht Hamm (LAG Hamm, Beschluss vom 15.04.2010, Aktenzeichen 16 Sa 1176/09) festgestellt, dass der Urlaubsanspruch für das Jahr 2006 nach der deutschen Regelung und nach dem Tarifvertrag wegen des Ablaufs des Übertragungszeitraums erloschen sei.
Es hat dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vorgelegt, ob eine nationale Regelung oder nationale Gepflogenheiten, nach denen die Übertragung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub bei Arbeitsunfähigkeit zeitlich begrenzt sind, mit der Richtlinie über die Arbeitszeitgestaltung (Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung) vereinbar sind.
In seinem Urteil weist der Gerichtshof auf seine Rechtsprechung (Urteil vom 20.01.2009) hin, wonach der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf und den die nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die im Unionsrecht ausdrücklich gezogen sind. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung jedoch nicht entgegensteht, die den Verlust dieses Anspruchs am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums umfasst, vorausgesetzt, der Arbeitnehmer hat tatsächlich die Möglichkeit gehabt, seinen Urlaubsanspruch auszuüben.
Zudem wäre unter bestimmten Umständen – wie denen des vorliegenden Falls – ein Arbeitnehmer, der während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähig ist, berechtigt, unbegrenzt alle während des Zeitraums seiner Abwesenheit von der Arbeit erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln. Ein Recht auf ein derartiges unbegrenztes Ansammeln von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub würde jedoch nicht mehr dem Zweck Urlaubsanspruchs entsprechen.
Der Arbeitnehmer soll sich von seiner Arbeit erholen und über einen gewissen Zeitraum für Entspannung und Freizeit verfügen. Zwar entfaltet sich die positive Wirkung des bezahlten Jahresurlaubs für die Sicherheit und die Gesundheit des Arbeitnehmers dann vollständig, wenn der Urlaub in dem hierfür vorgesehenen, also dem laufenden Jahr genommen wird, doch verliert die Ruhezeit ihre Bedeutung insoweit nicht, wenn sie zu einer späteren Zeit genommen wird. Überschreitet der Übertrag aber eine gewisse zeitliche Grenze, so fehlt dem Jahresurlaub seine positive Wirkung für den Arbeitnehmer im Hinblick auf den in der Erholungszeit bestehenden Zweck. In Anbetracht des Zwecks des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub kann ein während mehrerer Jahre arbeitsunfähiger Arbeitnehmer daher nicht berechtigt sein, in diesem Zeitraum erworbene Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub unbegrenzt anzusammeln.
Um dem Anspruch gerecht zu werden, muss daher jeder Übertragungszeitraum den spezifischen Umständen Rechnung tragen, in denen sich ein Arbeitnehmer befindet, der während mehrerer Bezugszeiträume krank ist. Dieser Zeitraum muss daher für den Arbeitnehmer die Möglichkeit bieten, bei Bedarf über Erholungszeiträume zu verfügen, die längerfristig gestaffelt und geplant werden können. Zudem muss ein Übertragungszeitraum die Dauer des Bezugszeitraums, für den er gewährt wird, deutlich überschreiten.
Außerdem muss der Übertragungszeitraum den Arbeitgeber vor der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiträumen und den Schwierigkeiten schützen, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben können.
Daher kann ein Zeitraum, der wie im vorliegenden Fall 15 Monate beträgt, vernünftigerweise als Übertragungszeitraum angesehen werden, der dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nicht zuwiderläuft, da er sicherstellt, dass dieser Anspruch seine positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit behält. Folglich steht das Unionsrecht im Fall eines während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmers einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten wie etwa Tarifverträgen nicht entgegen, die die Möglichkeit, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch erlischt.
Auswirkungen auf die Praxis:
Seit der Entscheidung des EuGH in der Sache „Schultz-Hoff“ (Urteil vom 20.01.2009) gilt: Der Urlaubsanspruch erlischt nicht, sondern addiert sich auf, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres / bzw. des Übertragungszeitraums erkrankt ist und deshalb den Urlaub tatsächlich nicht nehmen konnte. Dies führte in manchen Fällen zu einer erheblichen Ansammlung von Urlaubsansprüchen. Die Entscheidung 2009 hatte zur Folge, dass nunmehr die bisher für den Arbeitgeber „nur auf dem Papier“ noch vorhandenen Arbeitnehmer, die Krankengeld oder nach der Aussteuerung Arbeitslosengeld bezogen, schneller krankheitsbedingt gekündigt wurden. Grund war, dass die Arbeitgeber befürchteten jahrelange Urlaubsansprüche nach der Rückkehr der Arbeitnehmer genehmigen bzw. nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses als Urlaubsabgeltung auszahlen zu müssen. Die vorliegende Entscheidung reiht sich daher in den Streit um den Urlaub bei erkrankten oder befristet in Rente befindlichen Arbeitnehmern ein. Sie klärt die Frage, inwieweit Tarifverträge zulässig sind, die den Abgeltungszeitraum bei langfristiger Arbeitsunfähigkeit begrenzen.
Die Richter haben den Anspruch eingeschränkt. Zwar dürften Urlaubsansprüche nicht komplett verfallen, man könnte aber im Tarifvertrag vereinbaren, dass die Übertragung zeitlich begrenzt wird. Damit ist klargestellt: Arbeitnehmer sind zwar nicht rechtlos gestellt, wenn sie unverschuldet ihren Urlaub nicht nehmen können. Unbegrenzt können sie dafür aber nicht einen Ausgleich fordern, wenn dies im Tarifvertrag mit einer Verfallfrist geregelt wurde. Wie lange der Zeitraum der Übertragung sein muss um noch rechtmäßig zu sein, blieb jedoch auch nach der vorliegenden Entscheidung noch offen. Zumindest, so die Richter, muss „der Übertragungszeitraum die Dauer des Bezugszeitraums, für den er gewährt wird, deutlich überschreiten.“ Es sollte demnach auch weiter von den Arbeitnehmern der volle Urlaubsanspruch geltend gemacht werden. Die weitere Entwicklung und Umsetzung des EuGH- Urteils in unserer nationalen Rechtsprechung bleibt abzuwarten und ist spannend.