Mit dem Europarecht ist es so wie mit Tarifverträgen. Sind sie einmal abgeschlossen, hält man ihre Anwendung für natürlich, fordert dies auch ein und fragt nicht nach den Umständen ihrer Entstehung. Tatsächlich hat Europarecht unser Leben verändert. Und da wird es konkret. Hierzu nur einige, wenige Beispiele:

Europa  -  Konkrete Realität für Arbeitnehmer

Warum gilt Bereitschaftsdienst in Deutschland als Arbeitszeit und wird auf die gesetzlichen Höchstarbeitszeiten angerechnet?

Weil dies der Europäische Gerichtshof in Anwendung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie so entschieden hat! 

Warum musste Deutschland seinen gesetzlichen Mindesturlaub von 3 auf 4 Wochen verlängern? 

Weil die Richtlinie dies so festlegt! 

Warum verfällt der Urlaubsanspruch kranker Arbeitnehmer nicht zum Jahresende oder kurz darauf? 

Gleicher Grund! 

Warum müssen dem Arbeitnehmer seine wesentlichen Arbeitsbedingungen schriftlich nachgewiesen werden? 

Die Nachweisrichtlinie! 

Warum haben Betriebsräte bei Spaltungen und Zusammenfassungen von Betrieben ein Übergangsmandat? 

Die Betriebsübergangsrichtlinie! 

Warum dürfen Teilzeit- und befristet Beschäftigte gegenüber Vollzeit- und unbefristet beschäftigten Arbeitnehmern nicht benachteiligt werden? 

Weil Europäische Richtlinien solche Diskriminierungen verbieten! 

Warum musste der deutsche Gesetzgeber das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz erlassen? 

Weil Europäische Richtlinien genau dies verlangen! 

Man kann diese Aufzählung noch lange fortsetzen.

Europa --  Wirklichkeit vor deutschen Gerichten

Für den gewerkschaftlichen Rechtsschutz gehören das europäische Recht und die Rechtsprechung europäischer Gerichte zum täglichen Handwerkszeug. Nicht nur, dass Rechtsschutzsekretar*innen  Gewerkschaftsmitglieder vor diesen Gerichten vertreten. Sie konfrontieren auch untere Instanzgerichte mit europäischen Entwicklungen und Entscheidungen. Dies erfordert hohe Qualifikation, ständige Weiterbildung, den Blick über den Tellerrand und den Anspruch auf europäisches Denken und Argumentieren.

Wie wäre das Arbeitsleben ohne dieses konkrete Europarecht? Einzelne Mitgliedstaaten würden versuchen, die Arbeitsbedingungen herabzusenken, um den Wünschen in- und ausländischer Investoren nachzukommen, etwa durch Verlängerung möglicher Arbeitszeiten oder durch unbegrenzte Zulassung befristeter Arbeitsverhältnisse, „Flexibilisierung“ eben. 

Dadurch kämen andere Staaten wirtschaftlich unter Druck, würden nachfolgen, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. So wie es seit Jahren bei der Besteuerung von Unternehmensgewinnen geschieht. Am Ende stehen Finanzkrise und immer mehr Staatsschulden. Und im Arbeitsrecht droht eine sog. „Dumpingspirale“, d.h. wirtschaftlicher Standortwettbewerb durch Absenkung der Arbeitsbedingungen.

Europa soll Dumpingspirale verhindern

Genau dies soll Europa verhindern! Durch einheitliche Mindestbedingungen von Wien bis Warschau, von München bis Madrid. Hier gilt es mit einem Irrtum aufzuräumen: Dem Märchen von den höchsten Gehältern, den kürzesten Arbeitszeiten, dem längsten Urlaub, dem großzügigsten sozialen Schutz in Deutschland. Weit gefehlt! Immer wieder hat sich gezeigt, dass unsere Nachbarn im Arbeitnehmerschutz weiter waren, dass deutsche Arbeitnehmer*innen von einer Anpassung profitiert haben und profitieren. Siehe die Beispiele oben! 

Aber diese Sicherheit kommt nicht von selbst. Und hier greift die Parallele zu Tarifverträgen. Recht ist nichts anderes als geronnene Politik von gestern. Auf europäischer Ebene finden harte sozialpolitische Auseinandersetzungen statt. Diese sind nicht immer transparent, haben aber Auswirkungen.

Das Europäische Parlament: Mehr als ein Debattierclub

Eine maßgebliche Arena ist das Europäische Parlament. Dies ist inzwischen kein bloßer Diskutierclub mehr, sondern nach Artikel 153 AEUV zusammen mit dem Ministerrat das Entscheidungsorgan der europäischen Sozialpolitik. 

Dazu wieder ein Beispiel: Vor Jahren wollte eine Mehrzahl der europäischen Regierungen (einschließlich der Bundesregierung) den Arbeitszeitbegriff verwässern, d.h. letztlich längere Arbeitszeiten erlauben. Dieser Vorstoß scheiterte erst im europäischen Parlament – mit knapper Mehrheit. Und um diese Mehrheiten geht es. Von der Europawahl hängt auch ab, ob, wer das Kapital gibt, auch das Rechtssystem bestimmen oder sich sein ihm angenehmstes Rechtssystem aussuchen kann. Wird die Europapolitik von neoliberalen und konservativen Mehrheiten im Europaparlament bestimmt, könnte es so kommen – muss aber nicht! Über diese Mehrheiten wird bei der Europawahl 2014 entschieden.

Mehr dazu beim DGB auf dgb.de/extra/europawahl

Wahlaufruf der DGB-Gewerkschaften zur Europawahl (PDF, 253 kB)