EuGH: Kindergeld ist keine Sozialleistung. Es ist unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit zu gewähren und dient nicht der Sicherstellung des Lebensunterhalts. © Adobe Stock -Von Zerbor
EuGH: Kindergeld ist keine Sozialleistung. Es ist unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit zu gewähren und dient nicht der Sicherstellung des Lebensunterhalts. © Adobe Stock -Von Zerbor

Geklagt hatte eine aus einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland stammende Unionsbürgerin gegen die Ablehnung ihres Kindergeldantrags für ihre drei Kinder durch die Familienkasse (FK) Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit, für die ersten drei Monate nach Begründung ihres Aufenthalts in Deutschland.

Die FK vertrat die Auffassung, dass die Antragstellerin nicht die im Juli 2019 in Deutschland eingeführten Voraussetzungen erfülle, um als Unionsbürgerin Kindergeld während der ersten drei Monate beanspruchen zu können. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass sie in dieser Zeit keine „inländischen Einkünfte“ bezogen habe. Mit diesem Erfordernis zielte der deutsche Gesetzgeber darauf ab, einen Zustrom von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zu vermeiden, da dies zu einer unangemessenen Inanspruchnahme des deutschen Systems der sozialen Sicherheit führen könne. Dieses Erfordernis gilt dagegen nicht für deutsche Staatsangehörige, die von einem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat zurückkehren.

Bremer Finanzgericht ruft EuGH an


Das Finanzgericht Bremen hat dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), im Rahmen eines sog. Vorabentscheidungsersuchen im September 2020, die Frage vorgelegt, ob diese unterschiedliche Behandlung mit dem Unionsrecht vereinbar ist?

EuGH: Bei rechtmäßigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats steht Unionsbürgern Kindergeld zu


Der EuGH entschied, dass jede(r) Unionsbürger*in auch wenn er/sie wirtschaftlich nicht aktiv ist, das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten hat. Voraussetzung hierfür sei lediglich der Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses. Ansonsten bedürfe es keiner weiteren Formalitäten solange der/die Unionsbürger*innen und deren Familienangehörigen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Liegen diese Voraussetzungen vor, so das Gericht, sei von einem rechtmäßigen Aufenthalt auszugehen. Während dieser Zeit genießen die Unionsbürger, vorbehaltlich vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich vorgesehener Ausnahmen, die gleiche Behandlung wie Inländer.

Kindergeld ist keine Sozialhilfeleistung im Sinne geltender Ausnahmebestimmungen


Der Aufnahmemitgliedstaat kann gemäß einer im Unionsrecht zu diesem Zweck vorgesehenen Ausnahmebestimmung nicht wirtschaftlich aktiven Unionsbürger*innen in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts eine Sozialhilfeleistung verweigern. Bei dem von der Klägerin begehrten Kindergeld handele es sich jedoch um keine Sozialhilfeleistung im Sinne dieser Ausnahmebestimmungen. Kindergeld, so der EuGH werde nämlich unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit seines Empfängers gewährt und diene nicht der Sicherstellung seines Lebensunterhalts, sondern dem Ausgleich von Familienlasten. Da hinsichtlich solcher Familienleistungen eine Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Inländern und Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats nicht vorgesehen ist, stehe das Unionsrecht der vom deutschen Gesetzgeber eingeführten Ungleichbehandlung entgegen.

Gewöhnlicher Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat ist Voraussetzung für die Gleichbehandlung


Auf die Gleichbehandlung kann sich der/die betreffende Unionsbürger*in allerdings nur dann berufen, wenn er/sie während der fraglichen ersten drei Monate tatsächlich seinen/ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem Aufnahmemitgliedstaat begründet hat. Ein nur vorübergehender Aufenthalt genügt nicht. Die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in den Aufnahmemitgliedstaat impliziert, dass die betreffende Person den Willen zum Ausdruck gebracht hat, dort tatsächlich den gewöhnlichen Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen zu errichten, und nachweist, dass ihre Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hinreichend dauerhaft ist, um sie von einem vorübergehenden Aufenthalt zu unterscheiden.


Hier geht es zum Urteil des EuGH vom 1.8.2022: