Fragwürdiges Berliner Kopftuchverbot. Copyright by Adobe Stock/ michaeljung
Fragwürdiges Berliner Kopftuchverbot. Copyright by Adobe Stock/ michaeljung

Die Klägerin ist Diplom-Informatikerin und gläubige Muslima. Als Ausdruck ihrer Glaubensüberzeugung trägt sie ein Kopftuch.
 
Im Rahmen eines Quereinstiegs bewarb sie sich beim beklagten Land für eine Beschäftigung als Lehrerin für die Fächer Informatik und Mathematik an der Integrierten Sekundarschule (ISS), am Gymnasium oder an der Beruflichen Schule.
 
Im Anschluss an ein Bewerbungsgespräch, bei dem die Klägerin ein Kopftuch trug, erläuterte ihr ein Mitarbeiter der Zentralen Bewerbungsstelle die Rechtslage nach dem Berliner Neutralitätsgesetz. Hieraus ergebe sich, dass an den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz, Lehrkräfte innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen dürfen.
 
Die Klägerin erklärte, sie werde das Kopftuch auch im Unterricht nicht ablegen.
 

Klägerin verlangt Entschädigung vom Land Berlin

Nachdem ihre Bewerbung erfolglos geblieben war, verklagte die Klägerin das beklagte Land auf Zahlung einer Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Sie vertrat die Auffassung, das beklagte Land habe sie entgegen den Vorgaben des AGG wegen ihrer Religion benachteiligt. Zur Rechtfertigung dieser Benachteiligung könne das beklagte Land sich nicht erfolgreich auf § 2 Berliner Neutralitätsgesetz berufen. Dies ergebe sich daraus, dass das darin geregelte pauschale Verbot, innerhalb des Dienstes ein muslimisches Kopftuch zu tragen, gegen die durch Art. 4 Grundgesetz (GG) geschützte Glaubensfreiheit verstoße. Das beklagte Land wandte gegen die Argumentation der Klägerin ein, dass das Berliner Neutralitätsgesetz verfassungsgemäß und auch unionsrechtskonform sei. Die darin geregelte Verpflichtung der Lehrkräfte, im Dienst keine auffallenden religiös geprägten Kleidungsstücke zu tragen, stelle eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iSv. § 8 Abs. 1 AGG bzw. der unionsrechtlichen Vorgaben  dar. Angesichts der Vielzahl von Nationalitäten und Religionen, die in der Stadt vertreten seien, sei eine strikte Neutralität im Unterricht aus präventiven Gründen erforderlich. Des Nachweises einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität bedürfe es nicht.
 

Der Weg durch die Instanzen

Erstinstanzlich war der Klage kein Erfolg beschieden.
 
Auf die Berufung der Klägerin gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichts hat das Landesarbeitsgericht (LAG) das beklagte Land zur Zahlung einer Entschädigung iHv. 5.159,88 Euro verurteilt.
 
Gegen diese Entscheidung legte das beklagte Land Revision beim Bundesarbeitsgericht (BAG) ein, mit der es sein Begehren nach Klageabweisung weiterverfolgte. Die Klägerin legte Anschlussrevision ein, mit der sie die Zahlung einer höheren Entschädigung begehrte.
 

Bundesarbeitsgericht sieht Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG

Sowohl die Revision des beklagten Landes als auch die Anschlussrevision der Klägerin hatten keinen Erfolg.
 
Nach § 15 Abs. 2 AGG, so die Richter*innen, kann die Klägerin von dem beklagten Land wegen eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des AGG die Zahlung einer Entschädigung iHv. 5.159,88 Euro verlangen.
 
Als erfolglose Bewerberin habe die Klägerin eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG erfahren. Der Umstand, dass ein Mitarbeiter der Zentralen Bewerbungsstelle die Klägerin im Anschluss an das Bewerbungsgespräch auf die Rechtslage nach dem sog. Berliner Neutralitätsgesetz angesprochen und die Klägerin daraufhin erklärt habe, sie werde das Kopftuch auch im Unterricht nicht ablegen, begründe die Vermutung, dass die Klägerin wegen der Religion benachteiligt wurde. Eine Widerlegung dieser Vermutung sei dem beklagten Land nicht  gelungen. Da eine Benachteiligung der Klägerin nach § 8 Abs. 1 AGG nicht gerechtfertigt sei, könne sich das beklagte Land nicht mit Erfolg auf die in § 2 Berliner Neutralitätsgesetz getroffene Regelung berufen, wonach es Lehrkräften untersagt sei, innerhalb des Dienstes ein islamisches Kopftuch zu tragen.
 

Bundesarbeitsgericht: Keine konkrete Gefahr erkennbar

Bei verfassungskonformer Auslegung des § 2 Berliner Neutralitätsgesetz, so das BAG, sei zu dem Ergebnis zu kommen, dass das Verbot des Tragens eines sog. islamischen Kopftuchs nur im Fall einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität gilt. Eine solche konkrete Gefahr für diese Schutzgüter habe das beklagte Land jedoch nicht dargetan. Im Übrigen stelle der Berliner Gesetzgeber mit den Ausnahmeregelungen in den §§ 3 und 4 Berliner Neutralitätsgesetz sein dem § 2 Berliner Neutralitätsgesetz zugrundeliegendes Regelungskonzept selbst in Frage.
 
Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts über die Höhe der der Klägerin zustehenden Entschädigung hielt im Ergebnis einer revisionsrechtlichen Kontrolle stand.
Hier geht es zur Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts vom 28.8.2020
 
Für Interessierte:
Hier geht es zur Entscheidung des Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg vom 27.11.2018, Az: 7 Sa 963/18

Rechtliche Grundlagen

Auszug aus Berliner Neutralitätsgesetz, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), Artikel 4 GG


Auszug aus Berliner Neutralitätsgesetz:
§ 2 Neutralitätsgesetz
Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen nach dem Schulgesetz dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren, und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen. Dies gilt nicht für die Erteilung von Religions- und Weltanschauungsunterricht.


Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG):
https://www.gesetze-im-internet.de/agg/


Artikel 4 Grundgesetz (GG)
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
(3) 1Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. 2Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.