Vulkanausbrüche können ein außergewöhnlicher Umstand sein, gewerkschaftlich organisierte Streiks sind es nicht. Copyright by Adobe Stock/Jochen Scheffl
Vulkanausbrüche können ein außergewöhnlicher Umstand sein, gewerkschaftlich organisierte Streiks sind es nicht. Copyright by Adobe Stock/Jochen Scheffl

In seiner Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof nicht nur die Rechte von Fluggästen gestärkt, sondern auch den gewerkschaftlichen Streik als "mögliche Erscheinungsform von Kollektivverhandlungen“.
 

Pilotenstreik führt zu Flugausfällen

Im Ausgangsverfahren hatte der Fluggastrechteverband Airhelp gegenüber der Fluggesellschaft Scandinavian Airlines System (SAS) für einen Fluggast eine Ausgleichszahlung wegen Flugausfall eingeklagt.
 
Der Gast hatte für den 29. April 2019 einen Flug von Malmö nach Stockholm gebucht. Den Flug hatte SAS am selben Tag wegen eines Pilotenstreiks in Dänemark, Schweden und Norwegen annulliert. Zuvor waren die Verhandlungen zwischen der SAS und der zuständigen Gewerkschaft über einen neuen Tarifvertrag gescheitert.
 
Die Gewerkschaft hatte daraufhin zum Streik aufgerufen. Der Streik dauerte insgesamt sieben Tage. In dieser Zeit waren mehrere Flüge ausgefallen, darunter auch der des betroffenen Fluggasts. Airhelp klagte daher für ihn vor einem schwedischen Bezirksgericht auf eine Ausgleichszahlung.
 

Ausgleichszahlung nach Fluggastrechteverordnung

Eine solche Ausgleichszahlung bei Annullierung von Flügen seitens des Luftfahrtunternehmens ist in der Fluggastrechteverordnung festgelegt.
 
Nach Art. 5 der Verordnung erhalten Fluggästen unter bestimmten Voraussetzungen eine Entschädigung, wenn die Fluggesellschaft den gebuchten Flug annulliert. Die Höhe der Entschädigung ist dabei gestaffelt nach der Länge des Fluges in Kilometern.
 
Die Fluggesellschaft muss aber die Entschädigung nicht zahlen, wenn:
 

  • die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, also auf Umstände, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und
  • das Luftfahrunternehmen die Annullierung auch dann nicht hätten vermeiden können, wenn es alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hätte.

 

Streik als außergewöhnlicher Umstand?

Auf diese Klausel berief sich die SAS: Der Streik sei weder Teil der normalen Ausübung ihrer Tätigkeit noch sei er von ihr beherrschbar gewesen. Sie sei also berechtigt, die Ausgleichszahlung zu verweigern.
 
Airhelp widersprach dieser Rechtsansicht: Tarifvertragsverhandlungen und  -abschlüsse fielen unter die gewöhnliche Geschäftstätigkeit einer Fluggesellschaft. Es sei auch nicht ungewöhnlich, dass es in diesem Rahmen zu Streiks komme.
 
Das schwedische Bezirksgericht äußerte Zweifel daran, ob der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne der Verordnung einen Streik umfasst, der von einer Gewerkschaft nach vorheriger Ankündigung rechtmäßig beschlossen und eingeleitet wurde und mit dem Lohnerhöhungen durchgesetzt werden sollen. Nach schwedischem Recht muss ein Streik erst eine Woche vor seinem Beginn angekündigt werden. Es legte die Rechtssache dem EuGH zur Klärung vor.
 

Streik ist in der Grundrechtecharta der EU verankert

Der EuGH schloss sich der Rechtsansicht von Airhelp an. Die Ausgleichszahlung sei zu leisten, weil ein gewerkschaftlich organisierter Streik kein außergewöhnlicher Umstand sei. Der Begriff des außergewöhnlichen Umstandes sei eng auszulegen. Nicht nur, um ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, sondern auch, weil die Koalitionsfreiheit inklusive des Streikrechts in Artikel 28 der Charta der Grundrechte verankert sei.
 
Unabhängig von der Rechtslage im jeweiligen Mitgliedstaat seien Streiks schon aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung als ein Vorkommnis anzusehen ist, das Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Arbeitgebers sei.
 
Dies gelte umso mehr im vorliegenden Fall. Denn hier hatten die bei SAS beschäftigten Piloten unter Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben  - insbesondere nach vorheriger Ankündigung  - ihren Arbeitgeber bestreikt, um höhere Löhne sowie kürzere und planbarere Arbeitszeiten durchzusetzen. Da der Streik ein verbürgtes Recht sei, müsse man als Arbeitgeber auch damit rechnen, dass die Piloten zu diesem Mittel greifen, um diese Forderungen durchzusetzen.
 

Streik ist vorhersehbar und damit beherrschbar

Aus der Stellung des Streikrechts als verbürgtes Grundrecht der EU folge außerdem, dass die Annullierung des Fluges für die Fluggesellschaft nicht unvermeidbar war. Denn der Streik sei vorhersehbar gewesen. SAS hätte also die Möglichkeit gehabt, sich entsprechend vorzubereiten und dadurch die Folgen des Streiks abzufangen.
 
Die Fluggesellschaft könne, „wie jeder Arbeitgeber, dessen Beschäftigte zur Durchsetzung besserer Arbeitsbedingungen und einer höheren Bezahlung streiken, nicht behaupten, es habe keinerlei Einfluss auf die Streikmaßnahmen". Schließlich bestehe, wie immer bei Gehaltsverhandlungen, die Möglichkeit, im Rahmen des betriebsinternen sozialen Dialogs zu verhandeln.
 
Nicht beherrschbar seien nur solche Umstände, die von außen auf das jeweilige Unternehmen einwirken. Neben Naturereignissen könnten dies auch Streiks von Fluglotsen oder Flughafenpersonal sein. Ebenfalls keinen Einfluss haben Arbeitgeber auf einen Streik, der auf Forderungen gerichtet ist, die der Arbeitgeber selbst nicht erfüllen kann, beispielsweise, weil sie politischer Natur sind. Auch dies sei hier aber nicht der Fall gewesen.
 
Und schließlich verletze diese Sicht der Dinge auch nicht das Eigentumsrecht oder die Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers. Die Gefahr, durch den Streik erhebliche Ausgleichszahlungen leisten zu müssen, sei nicht so erheblich, als dass er nun allen Forderungen der Piloten nachgeben müsse.
 
Links
 
Pressemitteilung des EuGH

Rechtliche Grundlagen

Verordnung (EG) Nr. 261/2004 vom 11. Februar 2004, Grundrechtecharta

Artikel 5

Annullierung

(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

[…]

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

[…]

(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

Artikel 7

Ausgleichsanspruch

(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1500 km oder weniger,

b) 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1500 km und 3500 km,

c) 600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

Bei der Ermittlung der Entfernung wird der letzte Zielort zugrunde gelegt, an dem der Fluggast infolge der Nichtbeförderung oder der Annullierung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt.

Art. 28 Grundrechtecharta

Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen

Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen haben nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen.