Darf er weiter unterrichten? Copyright by Adobe Stock/contrastwerkstatt
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Mit dieser Fragestellung hat sich das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern in seinem Urteil vom 19. Mai 2020 beschäftigt.

Der Quereinsteiger

Ein Diplom-Agraringenieur übte wechselnde Tätigkeiten außerhalb des pädagogischen Bereiches aus.
Seit Oktober 2016 war er für knapp zwei Jahre  - teils mit, teils ohne Sachgrund  - beim Land Mecklenburg-Vorpommern als Lehrer in einer Regionalschule beschäftigt.
Ab dem 1. August 2018 stellte ihn das Land unbefristet als Lehrkraft an einer Förderschule an. In diesem Arbeitsvertrag war eine sechsmonatige Probezeit vereinbart.
 

Die unzufriedene Chefin

Am 25. Oktober 2018 besuchte die kommissarische Leiterin der Förderschule den Unterricht des Ingenieurs. Sie war mit seinen Leistungen unzufrieden und äußerte dies auch:
 
 „So geht es bei uns an der Schule nicht!“
 
Ob die kommissarische Schulleiterin ausdrücklich mit einer Kündigung in der Probezeit gedroht hat, ist zwischen den Parteien streitig.
 

Das unrühmliche Ende eines Arbeitsverhältnisses

Nach der Rüge der Vorgesetzten suchte der Ingenieur seinen Hausarzt auf, der eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zunächst bis zum 30. Oktober 2018 ausstellte. Zurück an der Schule gab der Gerügte seine Schulschlüssel und -bücher ab.
Am folgenden Tag kam es zu einem Gespräch mit dem Justiziar des Schulamtes, das etwa zehn-15 Minuten dauerte. Selbst nach Auffassung des Justiziars war der Ingenieur dabei völlig verzweifelt und mit seinen Nerven am Ende. Zum Schluss dieses Gesprächs unterzeichnete der Ingenieur einen Vertrag, nach dem das Arbeitsverhältnis zum 30. November 2018 endet.
 
Ob der Ingenieur um die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gebeten, oder ob der Justiziar (erneut) mit einer Probezeitkündigung gedroht hat, ist zwischen den Parteien ebenfalls streitig.
 

Der Streit beginnt . . .

Zunächst focht der  - inzwischen  - Ex-Lehrer den Aufhebungsvertrag an. Gleichzeitig legte er Klage ein. Das Arbeitsgericht sollte feststellen, dass das Arbeitsverhältnis durch den Aufhebungsvertrag nicht beendet ist, sondern unverändert fortbesteht.
 

. . . geht weiter . . .

Das Arbeitsgericht gab dem Kläger Recht. Er habe den Aufhebungsvertrag wirksam angefochten. Gegen diese Entscheidung legte das Land Mecklenburg-Vorpommern Berufung zum Landesarbeitsgericht ein.
 

. . . und endet zugunsten des Klägers

Das Arbeitsgericht hatte in erster Linie darauf abgestellt, dass der Kläger den Aufhebungsvertrag wegen einer widerrechtlichen Drohung wirksam angefochten habe. Deshalb sei der Vertrag nichtig.
 
Mit diesem Aspekt beschäftigt sich das Landesarbeitsgericht in seiner Entscheidung nicht. Stattdessen stellt es darauf ab, dass für den Arbeitgeber aufgrund der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches ein k:k „Gebot fairen Verhandelns“ k:k gelte.
 
Das Gebot könne verletzt sein, wenn der Arbeitgeber eine Verhandlungssituation herbeiführe oder ausnutze, die eine unfaire Behandlung des Vertragspartners darstelle.
 
Dies sei unter anderem der Fall,  „ . . . wenn die Entscheidungsfreiheit des Vertragspartners in zu missbilligender Weise beeinflusst wird.“
 
Dazu sei Voraussetzung, dass  „ . . . Eine psychische Drucksituation geschaffen oder ausgenutzt wird, die eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners erheblich erschwert oder sogar unmöglich macht.“
 
Bereits die unstreitige Äußerung  „So geht es bei uns an der Schule nicht!“  habe beim Kläger, der nicht pädagogisch ausgebildet war, einen massiven Druck aufgebaut. Dies gilt umso mehr, als er davon ausgehen durfte, sich noch in der Probezeit zu befinden. Dass die Vereinbarung der Probezeit wegen seiner fast zweijährigen Vollbeschäftigung unwirksam war, konnte er als juristischer Laie nicht wissen. Er musste also aus seiner Sicht damit rechnen, ohne weitere Begründung kündbar zu sein.
Folgerichtig habe auch der Justiziar vom Schulamt den Eindruck gehabt, der Kläger sei völlig verzweifelt und mit seinen Nerven am Ende gewesen. Diese Situation habe das Schulamt ausgenutzt. Es habe es dem Kläger in dem kurzen Gespräch gar keine Gelegenheit geboten, sich zu beruhigen und einen klaren Gedanken zu fassen. Deshalb sei er erkennbar nicht in der Lage gewesen,  „ … seine Interessen wahrzunehmen und eine freie und überlegte Entscheidung zu treffen.“
 

Das Ende vom Lied

Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat gegen das Gebot fairen Verhandelns und damit gegen arbeitsvertragliche Pflichten verstoßen. Deshalb ist es zum Schadensersatz verpflichtet. Es muss also nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch denjenigen Zustand herstellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre.
Hätte das Land Mecklenburg-Vorpommern keine psychische Drucksituation aufgebaut, hätte der Kläger den Aufhebungsvertrag nicht unterschrieben. Da ein Kündigungsgrund nicht gegeben war, hätte das Arbeitsverhältnis unbefristet fortbestanden.
Das Land Mecklenburg-Vorpommern ist also verpflichtet, den Kläger unbefristet weiter zu beschäftigen.

Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 19. Mai 2020 – 5 Sa 173/19