Wie viele Mitglieder braucht eine Gewerkschaft? Copyright by  Andrey Popov/Adobe Stock
Wie viele Mitglieder braucht eine Gewerkschaft? Copyright by Andrey Popov/Adobe Stock

Eine Vereinigung von Arbeitnehmer*innen in der privaten Versicherungs-branche behauptet, sie sei eine tariffähige Gewerkschaft. Eine konkurrierende Vereinigung bestreitet dies. Es kommt zum Rechtsstreit.

Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts

Für Rechtsstreitigkeiten, bei denen es um die Tariffähigkeit einer Vereinigung geht, ist nach dem Arbeitsgerichtsgesetz bereits erstinstanzlich das Landesarbeitsgericht zuständig.

Es stellt in seiner Entscheidung fest, dass von einer Tariffähigkeit einer Vereinigung und damit von ihrem Status als Gewerkschaft auszugehen sei, wenn sie bereits in der Vergangenheit Tarifverträge abgeschlossen habe. Sei dies nicht der Fall, weil die Vereinigung neu sei, komme der Mitgliederzahl für die Durchsetzungskraft und Mächtigkeit eine entscheidende Bedeutung zu.

Da die „Gewerkschaft“ lediglich einen Organisationsgrad von höchstens 0,5 % besaß, kam das Landesarbeitsgericht zu dem Ergebnis, Tariffähigkeit liege nicht vor.
 

Die Rechtsbeschwerde

Es besteht die Möglichkeit, gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichtes Rechtsbeschwerde beim Bundesarbeitsgericht einzulegen. Dieses Gericht erörtert aber nur Rechtsfragen. Neu vorgetragene Tatsachen berücksichtigt es nicht. Insbesondere dürfen Änderungen des Sachverhaltes während des Verfahrens keine Rolle spielen.

Dieser Gesichtspunkt war für die „Gewerkschaft“ wichtig. Denn sie behauptete, ihre Mitgliederzahl sei inzwischen gestiegen. Da das Bundesarbeitsgericht dies aber im Rahmen einer Rechtsbeschwerde nicht berücksichtigen darf, wandte sich die „Gewerkschaft“ sofort an das Bundesverfassungsgericht.

Die Verfassungsbeschwerde

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wandte sich die „Gewerkschaft“ gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts. Sie stützte sich auf zwei Argumente:

  • ihr Anspruch auf rechtliches Gehör sei nicht erfüllt
  • Tariffähigkeit könne auch bei zahlenmäßig kleineren Vereinigungen vorliegen.

Mit beiden Argumenten hat sich das Bundesverfassungsgericht ausführlich auseinandergesetzt.

Das erste Argument

Das Grundgesetz garantiere nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts einen wirkungsvollen Rechtsschutz. Dazu gehöre der Zugang zu den Gerichten die Rechtsstreitigkeiten in einem förmlichen Verfahren verbindlich entscheiden. Diese Garantie eröffne jedoch keinen unbegrenzten Rechtsschutz. Vielmehr sei es Aufgabe des Gesetzgebers zu entscheiden, für welche Rechtsstreitigkeiten er wie viele Instanzen bereit stelle.

Dagegen schütze das Grundgesetz nicht die Hoffnungen der „Gewerkschaft“ auf eine Veränderung der Tatsachen während des laufenden Verfahrens. Dies gelte umso mehr, als die Tariffähigkeit auch nach einer rechtskräftigen Entscheidung des Landesarbeitsgerichtes erneut auf den gerichtlichen Prüfstand kommen könne. Etwa, wenn sich ein Sachverhalt ändere, der entscheidungserheblich sei.

Das zweite Argument

Weder das Grundgesetz noch andere gesetzlichen Regelungen bestimmen ausdrücklich, wann eine Vereinigung von Arbeitnehmer*innen als Gewerkschaft anzusehen ist. Deshalb seien  - so das Bundesverfassungsgericht  - die Arbeitsgerichte befugt, die Voraussetzungen für die Tariffähigkeit näher zu umschreiben. Dabei sei dem Landesarbeitsgericht kein Fehler unterlaufen. Denn mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit sei es vereinbar nur solche Vereinigungen Tariffähigkeit zuzusprechen, die auch in der Lage sind, das Arbeitsleben durch Tarifverträge sinnvoll zu gestalten. Erforderlich für den Status einer Gewerkschaft sei deshalb ein Mindestmaß an Verhandlungsbericht und eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber der Arbeitgeberseite. Um festzustellen, ob diese Durchsatzkraft besteht, habe das Landesarbeitsgericht zu Recht auf die Anzahl der „Gewerkschafts“-Mitglieder abgestellt. Denn von der Mitgliederstärke einer Vereinigung hänge ihre Verhandlungsstärke ab. Die Zahl der Mitglieder bestimme sowohl die finanzielle Ausstattung als auch die organisatorische Leistungsfähigkeit der Organisation. Nur wer hinreichend viele Mitglieder habe, könne die finanziellen und personellen Lasten tragen, die mit dem Abschluss von Tarifverträgen verbunden seien.

Da die „Gewerkschaft“ lediglich über einen Organisationsgrad von maximal 0,5 % verfüge, habe das Landesarbeitsgericht nachvollziehbar angenommen, dass die erforderliche Durchsetzungsfähigkeit nicht gegeben sei.

Das Ergebnis

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde der „Gewerkschaft“ nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit bleibt es bei der Entscheidung des Landesarbeitsgerichtes.

Hier gehts zum Beschluss des BVerfG 13.09.2019 1 BvR 1/16

Rechtliche Grundlagen

Arbeitsgerichtsgesetz
§ 2a Zuständigkeit im Beschlussverfahren
(1) Die Gerichte für Arbeitssachen sind ferner ausschließlich zuständig für

. . .

4.
die Entscheidung über die Tariffähigkeit und die Tarifzuständigkeit einer Vereinigung;


Arbeitsgerichtsgesetz
§ 97 Entscheidung über die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung
(1) In den Fällen des § 2a Abs. 1 Nr. 4 wird das Verfahren auf Antrag einer räumlich und sachlich zuständigen Vereinigung von Arbeitnehmern oder von Arbeitgebern oder der obersten Arbeitsbehörde des Bundes oder der obersten Arbeitsbehörde eines Landes, auf dessen Gebiet sich die Tätigkeit der Vereinigung erstreckt, eingeleitet.
(2) Für Verfahren nach § 2a Absatz 1 Nummer 4 ist das Landesarbeitsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Vereinigung, über deren Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit zu entscheiden ist, ihren Sitz hat.
(2a) Für das Verfahren sind § 80 Absatz 1, 2 Satz 1 und Absatz 3, §§ 81, 83 Absatz 1 und 2 bis 4, §§ 83a, 84 Satz 1 und 2, § 90 Absatz 3, § 91 Absatz 2 und §§ 92 bis 96 entsprechend anzuwenden. Für die Vertretung der Beteiligten gilt § 11 Absatz 4 und 5 entsprechend.
(3) Der rechtskräftige Beschluss über die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung wirkt für und gegen jedermann. Die Vorschrift des § 63 über die Übersendung von Urteilen gilt entsprechend für die rechtskräftigen Beschlüsse von Gerichten für Arbeitssachen im Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4.
(4) In den Fällen des § 2a Abs. 1 Nr. 4 findet eine Wiederaufnahme des Verfahrens auch dann statt, wenn die Entscheidung über die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit darauf beruht, daß ein Beteiligter absichtlich unrichtige Angaben oder Aussagen gemacht hat. § 581 der Zivilprozeßordnung findet keine Anwendung.
(5) Hängt die Entscheidung eines Rechtsstreits davon ab, ob eine Vereinigung tariffähig oder ob die Tarifzuständigkeit der Vereinigung gegeben ist, so hat das Gericht das Verfahren bis zur Erledigung des Beschlußverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 auszusetzen. Im Falle des Satzes 1 sind die Parteien des Rechtsstreits auch im Beschlußverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 antragsberechtigt.