Arbeitnehmerüberlassung oder „Leiharbeit“ wie sie in Europa offiziell heißt, ist zumindest in Deutschland ein relativ junges Phänomen. Erst Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde mit der Bremer Firma Bindan das erste Unternehmen insoweit gegründet.
1972 sah sich die sozialliberale Koalition unter "Willy Brandt" veranlasst, „Leiharbeit“ gesetzlich zu regeln. Das neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) sah vor, dass Arbeitnehmer*innen längstens drei Monate „verliehen“ werden durften. Mit dem sog. „Beschäftigungsförderungsgesetz des damaligen Bundesarbeitsministers Norbert Blüm 1985 verlängerte der Gesetzgeber die maximale Einsatzdauer auf zunächst sechs Monate. In der Folgezeit erhöhte er sie dann schrittweise auf 24 Monate.
Die rot-grüne Regierung liberalisiert den Arbeitsmarkt
Und dann kam 2002 die zweite Regierung des Sozialdemokraten Schröder und seines Wirtschaft- und Arbeitsministers Wolfgang Clement (Nachfolger von Walter Riester). Sie meinten den Arbeitsmarkt „flexibilisieren“ zu müssen. Ein Euphemismus für den Abbau von Arbeitnehmerrechten. Mit der „Agenda 2010“ hob das „Rot-Grüne Projekt“ mehrere gesetzliche Rahmenbedingungen aus dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) ersatzlos auf, so etwa die Höchstüberlassungsdauer, das Befristungsverbot, das Wiedereinstellungsverbot und das Synchronisationsverbot (Verbot, die/den Beschäftigten nur an ein und denselben Entleiher zu überlassen).
Positiv wurde darauf hingewiesen, dass die Koalition zugleich das Gleichbehandlungsgebot im Arbeitnehmerüberlassungsrecht einführte („Equal Pay - Equal Treatment“). Indes wurde eine Öffnungsklausel für Tarifverträge eingeführt, wodurch es möglich wurde, tariflich vom Gleichbehandlungsgebot abzuweichen und Mini-Tarif zu vereinbaren.
Postwendend traten sog. „Christliche“ Gewerkschaften auf den Plan (CGZP) und vereinbarten Dumping-Tarife speziell für Leiharbeitnehmer*innen. Dieses Geschäftsmodell funktionierte. Die Liberalisierung führte dazu, dass sich die Anzahl der Leiharbeitnehmer*innen in kürzester Zeit verdoppelte und in vielen Betrieben Stammbeschäftigte verdrängte. Leiharbeit wurde der Königsweg zur Flucht aus den Tarifen der Einsatzbetriebe.
Die EU Leiharbeitnehmer als Beschäftigte, die „vorübergehend“ unter der Aufsicht und Leitung eines Entleihers arbeiten
Im November 2008 setzte die EU unionsweit einheitliche Mindeststandards für die Arbeitsbedingungen der Leiharbeitnehmer in der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG fest. Jeder Mitgliedstaat ist verpflichtet, sie in ihr nationales Recht zu übernehmen. Sie macht u.a. den Grundsatz „Equal Pay - Equal Treatment“ verbindlich. In Artikel 1 und 3 definiert sie Leiharbeitnehmer als Beschäftigte, die „vorübergehend“ unter der Aufsicht und Leitung eines Entleihers arbeiten. Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um insbesondere aufeinanderfolgende Überlastungen, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern.
Das ist im Wesentlichen der geschichtliche und rechtliche Rahmen eines Falles, den der EuGH kürzlich zu entscheiden hatte. Die Geschichte betrifft einen gewerkschaftlich organisierten „Leiharbeitnehmer“, der in der Zeit vom 1. September 2014 bis zum 31. Mai 2019 insgesamt 55 Monate bei der Daimler AG im Mercedes-Benz Werk Berlin gearbeitet hatte. Er möchte festgestellt haben, dass zwischen ihm und der Daimler AG ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen ist. Der Kläger war vor dem EuGH durch das Gewerkschaftliche Centrum für Revision und Europäisches Recht vertreten.
Gesetz und Tarifvertrag berücksichtigen keine Zeiten, der/die Leiharbeitnehmer*in vor April 2017 zurückgelegt hat
Rechtsgrundlagen finden sich im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) und im Tarifvertrag zur Leih-/Zeitarbeit in der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg vom 1. Juni 2017 sowie in einer Gesamtbetriebsvereinbarung der Daimler AG vom 20. September 2017. Gemäß § 10 AÜG kommt zwischen Leiharbeitnehmer und Entleiher ein Arbeitsverhältnis u.a. dann zustande, wenn die zulässige Höchstdauer der Überlassung von 18 Monaten überschritten wurde.
Die Vorschrift enthält indessen eine Öffnungsklausel für Tarifverträge. Der oben genannte Tarifvertrag und Gesamttarifvereinbarung sehen eine Höchstdauer von 36 Monaten vor. Sowohl das Gesetz als auch dem folgend Tarifvertrag und Gesamtbetriebsvereinbarung berücksichtigen allerdings nur Zeiten, die die/der Betroffene nach dem 1. April 2017 als überlassener Arbeitnehmer*in im Betrieb des Entleihers zurückgelegt hat.
Das LAG legt dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Wege der Vorabentscheidung einige Fragen vor
Das AÜG soll die europäische Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG vom 9. November 2008 in deutsches Recht umsetzen. Deshalb hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Wege der Vorabentscheidung einige Fragen vorgelegt, die im Wesentlichen die Frage klären sollten, ob sich aus der Richtlinie ergibt, dass bei überlanger Einsatzdauer ein Einstellungsanspruch des Leiharbeitnehmers gegen den Entleiher entsteht. „Das hat der Gerichtshof letztlich sibyllinisch beantwortet,“ konstatiert Rudolf Buschmann, Jurist im Gewerkschaftlichen Centrum für Revision und Europäisches Recht und bewährter Prozessvertreter von Arbeitnehmer*innen vor dem EuGH.
Aus dem Recht der Europäischen Union ließe sich nicht unmittelbar entnehmen, dass der Leiharbeitnehmer ein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen ableiten könne, konstatiert der EuGH. Wenn also das Recht des Mitgliedstaates eine solche Rechtsfolge für missbräuchliche Arbeitnehmerüberlassung nicht vorsieht, trete sie auch dann nicht ein, wenn die nationale Regelung gegen EU-Recht verstößt. Der EuGH kommt im Übrigen zu folgenden Ergebnissen:
Es ist rechtsmissbräuchlich, eine/n Beschäftigte/n länger an einen Entleiher zu überlassen, als vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann
Dem Begriff „vorübergehend“ gemäß Artikel 1 und 3 der Richtlinie stehe nach Auffassung des Gerichtshofs nicht entgegen, dass die/der Beschäftigte auf einen Arbeitsplatz gesetzt werde, der dauerhaft vorhanden sei und der nicht vertretungsweise besetzt werde.
Es sei indessen missbräuchlich, wenn diese Überlassungen auf demselben Arbeitsplatz bei einem entleihenden Unternehmen für eine Dauer von 55 Monaten verlängert würden. Das gelte jedenfalls dann, wenn der Betreffende Kontext des nationalen Regelungsrahmens insgesamt länger beim Entleiher beschäftigt würde, als das branchenüblich sei und vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden könne, ohne dass eine objektive Erklärung dafür gegeben werde. Darüber zu urteilen, sei allerdings Sache der nationalen Gerichte.
Es entspricht nicht europäischem Recht, wenn eine nationale Regelung Zeiträume nicht berücksichtigt, die vor dem Inkrafttreten dieser Regelung liegen
Es sei ein Verstoß gegen die Richtlinie, wenn das Gesetz eines Mitgliedstaates der EU die Höchstdauer der Überlassung desselben Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen festlegt und zugleich durch eine Übergangsvorschrift bestimmt, dass Zeiträume nicht berücksichtigt würden, wenn sie vor dem Inkrafttreten dieser Regelung liegen. Dem nationalen Gericht sei dann nämlich die Möglichkeit genommen, die tatsächliche Dauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers zu berücksichtigen, und es könne nicht feststellen, ob diese Überlassung im Sinne der Richtlinie „vorübergehend“ gewesen sei.
Die Richtlinie erlaube allerdings, dass das Gesetz des Mitgliedslandes die Tarifvertragsparteien ermächtigt, auf der Ebene der Branche der entleihenden Unternehmen von der durch eine solche Regelung festgelegten Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers abzuweichen. Allerdings sind in diesem Falle auch die Tarifparteien an die Obergrenzen der Überlassungshöchstdauer gebunden, wie der EuGH sie in diesem Urteil - unscharf - definiert hat, sodass 55 Monate regelmäßig zu lang sind.
Rudolf Buschmann: „Der Gesetzgeber ist gehalten, das Gesetz umgehend zu korrigieren“
„Mit diesem Urteil hat der Gerichtshof einige Fragen beantwortet, mehrere aber noch offengelassen“ kommentiert Rudolf Buschmann das Urteil. Schließlich kenne auch das AÜG eine Begrenzung auf vorübergehende Überlassungen. Dieses nationale Gesetz sei nun im Lichte der Richtlinie und der vorliegenden EuGH-Entscheidung europarechtskonform auszulegen, so der Jurist: „Damit haben die nationalen Arbeitsgerichte die Aufgabe klarzustellen, dass Überlassungen, die etwa über 55 Monate gehen, nicht nur gegen die Richtlinie, sondern auch gegen das AÜG verstoßen. Ein Übernahmeanspruch kann sich dann aus dem AÜG ergeben, ohne dass man auf einen unmittelbar aus Europarecht folgenden Übernahmeanspruch zurückgreifen muss“.
Darüber hinaus sei der nationale Gesetzgeber gehalten, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz umgehend zu korrigieren, um seine europarechtswidrigen Bestimmungen zu beseitigen, erklärt Rudolf Buschmann. Die Korrektur solle u.a. klarstellen, dass eine Überlassungsdauer von 55 Monaten nicht nur gegen die Richtlinie, sondern auch gegen das AÜG verstoße.
Hier geht es zur Entscheidung des EuGH:
Hier geht es zur Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG vom 9. November 2008: (PDF)