Die Arbeitswelt hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt: weniger "Malocher" und mehr hochqualifizierte Spezialisten in deutschen Unternehmen. Wie müssen die Gewerkschaften darauf reagieren?

Wenn wir über den Wandel der Arbeitswelt reden, dann reden wir über Veränderungen, die sich aus der Digitalisierung und auch in Folge der demografischen Entwicklung ergeben. Und die betreffen alle Beschäftigten und ihre Familien. Wir Gewerkschaften begegnen dem mit unserem Leitbild der "Guten Arbeit". Darunter verstehen wir gute Arbeitsbedingungen, gute Bildung und Qualifizierung für alle und eine starke Mitbestimmung. Eine starke Tarifbindung ermöglicht eine breite Absicherung von Löhnen und gute Rahmenbedingungen in den Betrieben. Die Betriebsräte unterstützen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dabei, diese Ziele in den Unternehmen durchzusetzen. Da wo es Betriebsräte gibt, gibt es in der Regel auch Gute Arbeit. Dass die Gewerkschaften damit auf dem richtigen Weg sind, zeigt die hohe Zustimmung in der Gesellschaft. Unsere Anerkennung hat in den vergangenen zehn Jahren deutlich zugenommen. Unter den Top 10 der Erwartungen an die Gewerkschaften stehen die Vereinbarung höherer Löhne, Verbesserungen beim Kündigungsschutz, die Besserstellung von Leiharbeit, mehr Mitbestimmung, die Herabsetzung des Rentenalters und  Verbesserungen der Gesundheitsvorsorge - alles Themen, die wir auf der Agenda haben. Da ist es keine Frage von "Malochern" oder "Nicht-Malochern", Akademikern oder Nicht-Akademikern, Facharbeitern oder Nicht-Facharbeitern: Wir sind in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft breit aufgestellt. Mit mehr als 6 Millionen Mitgliedern sind die Gewerkschaften unter dem Dach des DGB die stärkste organisierte Kraft in diesem Land.

Die Gewerkschaften fordern ein soziales Europa mit fairen Arbeitsplätzen. Aber sind in Europa die Bedingungen nicht zu unterschiedlich, um ein einheitliches Arbeitnehmerrecht zu gestalten?

Natürlich gibt es unterschiedliche Traditionen, Kulturen und Standards in den EU-Staaten, aber eben auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Die Mitbestimmung ist ein wichtiger Bestandteil des sozialen Europa und verwirklicht einen legitimen Teilhabeanspruch der Beschäftigten. In 19 der 31 Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums gibt es Arbeitnehmerbeteiligung auf Unternehmensebene, zwar in unterschiedlicher Ausprägung, aber es gibt sie. Wir werden uns dafür einsetzen, die Mitbestimmung auch auf europäischer Ebene zu stärken und weiterzuentwickeln. In Sachen Arbeitnehmerrechte setzt die Europäische Union Mindeststandards, dass heißt, die Kommission kann selbst oder auf Betreiben der europäischen Sozialpartner aktiv werden und Standards setzen, die dann auf nationaler Ebene eingehalten werden müssen. Leider wurden in den letzten Jahren von der Kommission hier keine ehrgeizigen Impulse mehr gesetzt. Im Gegenteil: Wichtige soziale Errungenschaften, etwa im Bereich des Arbeitsschutzes stellt die noch amtierende Kommission unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus in Frage. Im Rahmen ihrer Initiative  "Refit - Fit for Growth" drohen wichtige Arbeitnehmerrechte ausgehebelt zu werden. Wir werden gegenhalten, sollte dem so sein. Denn für uns ist klar: Wir wollen ein Europa mit starken Arbeitnehmerrechten und Sozialstandards, das den Menschen und nicht den Märkten dient. Ein Abbau von sozialen - und Arbeitnehmerrechten darf es nicht geben. Ziel ist eine Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in Europa auf dem Wege des sozialen Fortschritts - und kein Unterbietungswettbewerb.

Du forderst eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wie kann das gelingen angesichts von Dumpinglöhnen in einigen Branchen und daraus resultierenden Zweit- und Drittjobs, um die Familie über Wasser zu halten?

Wir müssen hier an zwei Stellschrauben ansetzen: bei den Löhnen und bei der Arbeitszeit. Gegen die Dumpinglöhne werden wir bald den gesetzlichen Mindestlohn als Untergrenze haben. Wir kämpfen hier noch darum, dass es keine Ausnahmen gibt. Bei der Arbeitszeit komme ich noch einmal auf die EU zurück, nämlich auf die EU-Elternzeitrichtlinie, die in Deutschland leider noch nicht umgesetzt ist. Sie sieht vor, dass erwerbstätige Mütter und Väter, die aus der Elternzeit in ihren Beruf zurückkehren, über Dauer, Lage und Rhythmus ihrer Arbeitszeit mitbestimmen - auch in Unternehmen mit weniger als 15 Beschäftigten. In Deutschland machen wir mit dem gerade vom Bundeskabinett beschlossenen Elterngeld Plus zwar einen richtigen und wichtigen Schritt. Aber auf dem Weg zu echter Arbeitszeitsouveränität für Beschäftigte haben wir noch eine beachtliche Strecke vor uns. Der nächste Meilenstein für uns ist dabei das im Koalitionsvertrag enthaltene Recht auf Rückkehr aus Teilzeit- in Vollzeitarbeit. Gerade Frauen landen häufig in einer Teilzeitfalle, die dann zuschnappt, wenn sie sich etwa einmal auf einen Minijob eingelassen haben. Dann heißt es oft: einmal Mini-Job, immer Mini-Job - ohne Chance, da wieder rauszukommen. Wir brauchen dringend eine Reform dieser Kleinstarbeitsverhältnisse.

Wie kann sich der DGB unter deiner Leitung einbringen, um die mehrfach geforderte "Gute Arbeit" zu erreichen?

"Gute Arbeit" ist ein Leitbild und zugleich auch eine Herausforderung für die Arbeit des DGB und der Mitgliedsgewerkschaften. Es ist nicht nur ein Thema, das in den Betrieben und Unternehmen diskutiert werden muss. Wir  brauchen eine breite gesellschaftspolitische Debatte über die Arbeit der Zukunft. Wir werden unter dem Leitbild "Gute Arbeit" vier Schwerpunkte in den Blick nehmen: die Stärkung der Tarifautonomie, die Humanisierung der Arbeit, das Thema Bildung und eine breit angelegte Mitbestimmungsoffensive. Mir ist wichtig, dabei immer auch die europäischen Entwicklungen einzubeziehen. Die Gewerkschaftsarbeit wird europäischer werden müssen. Rahmenbedingungen für "Gute Arbeit" entscheiden sich auch auf europäischer Ebene - die Arbeitsbeziehungen gestalten sich europäischer. Zu "Guter Arbeit" gehört aber auch, dass wir neben der Stärkung der Tarifautonomie jetzt den bundesweit einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn bekommen. Wir bringen uns da gerade intensiv in den Gesetzgebungsprozess ein.

Eine tragende Säule der Gewerkschaften ist der kostenlose Rechtsschutz. Wie bewertest du in diesem Zusammenhang die Arbeit der DGB Rechtsschutz GmbH für die Mitglieder?

Der Rechtsschutz bei arbeits- und sozialrechtlichen Verfahren ist eine zentrale Dienstleistung für alle Gewerkschaftsmitglieder. Wichtig sind auch die Fortbildungen im Arbeits- und Sozialrecht sowie im Betriebsverfassungsrecht für alle Gewerkschaftsjuristen als Schwerpunkte des DGB Rechtsschutz. Wir müssen helfen, die Interessen der arbeitenden Menschen auch juristisch durchzusetzen. Mit seinen 170 Standorten ist der DGB Rechtsschutz im gesamten Bundesgebiet flächendeckend vertreten und hat in den letzten drei Jahren über eine halbe Million Verfahren für Gewerkschaftsmitglieder geführt. Fast 1,4 Milliarden Euro wurden so erstritten. Ich denke, das kann sich sehen lassen.

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