© Adobe Stock - Von Stockwerk-Fotodesign
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Neumann ist ein einfacher Mensch. Er besuchte die Sonderschule, einen Führerschein oder einen Abschluss hat er nicht. Seit mehr als 35 Jahren ist er mit einfachsten Arbeiten beim gleichen Arbeitgeber beschäftigt. Im Jahr 2021 wurde seine Arbeitszeit auf 30 Wochenstunden reduziert.

 

Personalgespräch

 

Im Januar ist Neumann zwei Tage nicht zur Arbeit gekommen. Der Prokurist spricht ihn Mitte Februar am Arbeitsplatz an und sagt ihm, er müsse in einer Viertelstunde im Personalbüro sein.

Neumann setzt sich ihm gegenüber. Es wird ihm eine vom Arbeitgeber schon unterschriebene Abmahnung übergeben und ein ebenfalls vom Arbeitgeber schon unterschriebener Aufhebungsvertrag.

 

Was genau gesagt wurde, ist streitig. Es endete damit, dass der Prokurist Neumann den Kuli hinhielt und Neumann unterschrieb, ohne den Text gelesen zu haben.

Neumann arbeitete seine Schicht zu Ende. Er schilderte später, ihm sei gesagt worden." Da hasch Dei Kündigung" und "am 31.5. issch Schluss".

 

Schwester erkannte dringenden Handlungsbedarf

 

Neumann kam nach Hause und zeigte seiner Schwester die Kündigung. Die erfasste, dass ihr Bruder einen Aufhebungsvertrag unterschrieben hatte, und sie wendete sich unverzüglich an einen Anwalt, der sofort vor dem Arbeitsgericht den Aufhebungsvertrag angriff.

 

Soll eine Anfechtung erfolgen, muss ganz unverzüglich gehandelt werden, sonst ist der Zug schon abgefahren - unabhängig davon, ob man inhaltlich Erfolgsaussichten hat.

 

Inhalt des Aufhebungsvertrags

 

Der Aufhebungsvertrag enthielt noch nicht einmal die normale Kündigungsfrist, sondern kürzte diese um vier Monate ab. Neumann erhielt auch keine Abfindung. Und er ist auch nicht so alt, dass er nahtlos in Rente gehen könnte. Ein solcher Aufhebungsvertrag hätte bestimmt auch noch eine Sperrzeit bei der Agentur für Arbeit zur Folge.

 

BAG sieht grundsätzlich kein Erfordernis für eine Bedenkzeit

 

Das Arbeitsgericht Heilbronn kennt natürlich die Rechtsprechung des BAG (Urteil vom 24.2.2022 - 6 AZR 333/21).

Danach muss der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer keine Bedenkzeit einräumen, auch nicht im Rahmen des Gebots des fairen Handelns. Das bedeutet: keine Bedenkzeit einzuräumen, verstößt grundsätzlich nicht gegen dieses Gebot.

 

Arbeitsgericht begründet hier eine Ausnahme

 

Das Arbeitsgericht Heilbronn hat mit diesem Urteil entschieden, dass hier der Aufhebungsvertrag das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst hat, weil der Arbeitgeber in diesem speziellen Fall gegen das Gebot des fairen Handelns verstoßen hat.

 

Die Abwägungskriterien

 

Der Arbeitgeber muss nicht eigene Interessen verleugnen, aber die angemessenen Interessen des Vertragspartners berücksichtigt. Das ist nicht der Fall, wenn die Entscheidungsfreiheit in missbilligender Weise beeinflusst wird, wenn also ein Mindestmaß an Fairness nicht eingehalten wird. Z.B. wenn psychischer Druck aufgebaut und geschaffen wird, so dass eine freie überlegte Entscheidung erschwert oder sogar unmöglich gemacht wird. Oder, wenn Rahmenbedingungen geschaffen werden, die sogar einen Fluchtreflex auslösen oder auch, wenn körperliche oder psychische Schwächen oder unzureichende Sprachkenntnisse ausgenutzt werden. Auch die Nutzung eines Überraschungsmoments kann die Entscheidungsfreiheit beeinflussen.

 

Einzelfallentscheidung

 

In einer besonderen Fallkonstellation kann dann eine Bedenkzeit und eine entsprechende Hinweispflicht vom Arbeitgeber verlangt werden. Das Gericht bewertet, ob das Fehlverhalten des Arbeitnehmers Auslöser, und wenn ja, ob es eine Kündigung hätte rechtfertigen können. Selbst, wenn hier der Prokurist nicht von einer Kündigung gesprochen hat, wurde die psychische Schwäche Neumanns ausgenutzt, um das Ergebnis - die Unterschrift - zu bekommen. Das Gericht hat im Verfahren schon den Eindruck gewonnen, dass Neumann selbst einfachste Fragen nicht beantworten konnte. Das Kommunizieren war so eingeschränkt, dass das Gericht selbst auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichtete.

Für ein Ausnutzen sprach, dass der Vorfall abgemahnt wurde, und man sich dies unterschreiben ließ. Obwohl damit der Vorwurf quasi verbraucht war, wollte man den Auflösungsvertrag unterzeichnet haben, auch wenn man keinen Kündigungsgrund mehr hatte. Und dann wurde auch noch die Kündigungsfrist um vier Monate verkürzt. Neumann war immerhin über 35 Jahre dort, und lange Zeit lief das Arbeitsverhältnis störungsfrei.

 

Dies alles bewog das Gericht dazu, einen Verstoß anzunehmen, der den Aufhebungsvertrag unwirksam machte.

 

Arbeitsgericht Heilbronn, Urteil vom 18. Mai 2022 - 2 Ca 60/22

Das sagen wir dazu:

Dies ist ein wirklicher Ausnahmefall. Grundsätzlich wird von Arbeitnehmern ein einfaches "Nein" erwartet, wenn von ihnen sofort eine so weitreichende Entscheidung wie die Unterschrift unter einem Aufhebungsvertrag verlangt wird. Einfach ist das natürlich nicht, wenn eine Drucksituation besteht und vielleicht sogar noch zu Recht Vorhalte gemacht werden. Wird keine Bedenkzeit eingeräumt, dann ist das Angebot im Regelfall schlecht.