Anspruch auf Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen trotz sicheren Arbeitsplatzes
Die Klägerin war seit 2002 als Justizfachangestellte im mittleren Dienst in Vollzeit beschäftigt. Bei ihr wurde ein GdB von 30 festgestellt. Im Juli 2009 bewarb sie sich für die Ausbildung zur Diplom-Finanzwirtin im gehobenen Dienst. Die Finanzbehörde stellte nach dem Gespräch eine Einstellung in Aussicht, lehnte diese aber nach ärztlicher Untersuchung ab. Begründung: Die Klägerin besitzt nicht die für die Einstellung in das Beamtenverhältnis erforderliche gesundheitliche Eignung.
Bundesagentur für Arbeit lehnt Gleichstellungsantrag ab
Im September 2010 stellte die Klägerin bei der beklagten Bundesanstalt für Arbeit Antrag auf Gleichstellung mit den Schwerbehinderten (§ 2, Abs. 3 SGB IX). Sie begründete diesen damit, dass sie die Gleichstellung benötige, um die Stelle als Beamtin auf Widerruf erlangen zu können. Die Beklagte lehnte den Antrag ab. Eine Gleichstellung, so die Bundesanstalt für Arbeit, sei nicht erforderlich, da die Klägerin einen sicheren Arbeitsplatz habe und die Gleichstellung nicht den beruflichen Aufstieg fördern solle. Ein hiergegen erhobener Widerspruch sowie eine Klage beim Sozialgericht Hamburg blieben erfolglos. Die gegen die Entscheidung des Sozialgerichts eingelegte Berufung der Klägerin war erfolgreich. Das Landessozialgericht Hamburg verpflichtete die beklagte Bundesanstalt für Arbeit, die Klägerin mit einem schwerbehinderten Menschen gleichzustellen, da dies erforderlich sei den angestrebten Arbeitsplatz erhalten zu können.
Bundessozialgericht (BSG) verpflichtet Bundesagentur für Arbeit zur Gleichstellung!
Die von der beklagten Bundesanstalt für Arbeit beim BSG eingelegte Revision wurde zurückgewiesen, was zur Folge hat, dass die Beklagte verpflichtet wurde, die Klägerin mit den schwerbehinderten Menschen gleichzustellen.
Denn, so das BSG: Die Klägerin bedarf der Gleichstellung, um den angestrebten neuen Arbeitsplatz erhalten zu können. Der angestrebte Arbeitsplatz ist für die Klägerin geeignet. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Geeignetheit des angestrebten Arbeitsplatzes festgestellt, ohne dass die Beteiligten insoweit Verfahrensrügen erhoben hätten. Nachdem die Klägerin schon bisher die Anforderungen einer Vollzeittätigkeit auf einem Büroarbeitsplatz erfüllte, bestehen auch keine Zweifel, dass die angestrebte Tätigkeit für sie geeignet, sie also gesundheitlich auf Dauer nicht überfordert ist.
Auch kam das BSG zu dem Ergebnis, dass der Ursachenzusammenhang zwischen ihrer Behinderung und der Erforderlichkeit der Gleichstellung als gegeben anzunehmen ist. Denn hiervon sei immer dann auszugehen, wenn der behinderte Mensch wegen seiner Behinderung den von ihn angestrebten Arbeitsplatz nicht erlangen kann. Hiervon sei auszugehen, weil die Klägerin die spezifischen gesundheitlichen Anforderungen für eine Einstellung in das Beamtenverhältnis ohne Gleichstellung nicht erfüllt. Nach erfolgter Gleichstellung dürfte es der Klägerin möglich sein, den von ihr angestrebten Arbeitsplatz einnehmen zu können, da für Schwerbehinderte und mit diesen gleichgestellten Personen weniger strenge gesundheitliche Einstellungsanforderungen bestehen.
Kommentar: Bundesanstalt für Arbeit in der Kritik!
Die vom BSG bestätigte Entscheidung des LSG Hamburg gibt einmal mehr zu erkennen, dass die Entscheidungen über die Anträge auf Gleichstellung mit den Schwerbehinderten, die durch die Bundesanstalt für Arbeit zu entscheiden sind, nicht selten bedenklich erscheinen. Immer wieder werden Anträge auf Gleichstellung mit den schwerbehinderten Menschen, die z. B. von Betriebsratsmitgliedern oder tariflich altersgeschützten Arbeitnehmern*innen gestellt werden, von der Bundesanstalt für Arbeit abgelehnt. Die pauschale Begründung lautet: Einer Gleichstellung bedarf es nicht, da der/die Antragsteller*in ausreichend durch das Betriebsratsmandat bzw. durch den tariflichen Altersschutz vor Kündigungen geschützt ist. Dass die Gleichstellung nicht nur vor Kündigungen eines Arbeitsverhältnisses schützen soll, sondern auch ein Anspruch auf Gleichstellung unterhalb der Schwelle der Kündigung besteht, ergibt sich zwar aus dem Gesetz, hat sich aber offenkundig noch nicht bei allen zur Entscheidung berufenen Stellen der Bundesagentur für Arbeit herumgesprochen, was anhand nachstehender Beispiele deutlich wird:
Betriebsratsmitglied wurde ein GdB i.H.v. 30 zuerkannt. Antrag auf Gleichstellung wurde durch die Bundesanstalt für Arbeit negativ beschieden, da durch das Betriebsratsmandat ein ausreichender Kündigungsschutz bestehe. Unbeachtet blieb bei dieser Entscheidung, dass im selben Betrieb tätige Kollegen*innen mit einem GdB i.H.v. 30, denen die Gleichstellung zuerkannt wurde, aufgrund der Gleichstellung fünf Arbeitstage mehr Urlaub pro Kalenderjahr erhalten. Dieser Mehr-Urlaubs-Anspruch für Gleichgestellte i.S. des § 125 SGB IX ergibt sich aus einem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Rahmentarifvertrag, den die Arbeitgeberin mit der Gewerkschaft ver.di abgeschlossen hat. Allein weil die/der Antragsteller*in Mitglied eines Betriebsrats ist, verweigert die Bundesanstalt die Zuerkennung der Gleichstellung mit den schwerbehinderten Menschen. Dies ist eine unzulässige Benachteiligung im Sinne von § 78 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), welche durch die verweigerte Gleichstellung zu Lasten des Betriebsratsmitglieds geht. Der Schutz, des § 78 BetrVG, richtet sich gegen jedermann und erstreckt sich auch auf die berufliche Entwicklung.
Eine weitere Benachteiligung im Rahmen des Gleichstellungsbegehrens erfahren z.B. behinderte Betriebsratsmitglieder und/oder behinderte tariflich altersgeschützte Arbeitnehmer*innen mit einem GdB i.H.v. mindestens 30 durch die Bundesanstalt für Arbeit, weil sie keinen Anspruch aus § 81 Abs. 5 Satz 3 SGB IX i.V.m. § 68 SGB IX auf einen etwaigen Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung haben, falls eine kürzere Arbeitszeit wegen Art und Schwere der Behinderung erforderlich bzw. notwendig ist. Die Regelung ist eine für die betroffenen Arbeitnehmer günstigere als die aus dem Teilzeit- und Befristungsgesetz. Die von der Bundesanstalt für Arbeit von der Gleichstellung mit den schwerbehinderten Menschen ausgeschlossenen Arbeitnehmer wie z.B. Betriebsräte oder altersgeschützte Arbeitnehmer*innen sind von dem gesamten Pflichtenkanon des Arbeitgebers, wie er sich aus § 81 SGB IX ergibt, ausgeschlossen.
Darüber hinaus sind behinderte Arbeitnehmer*innen, die sich auf einen besonderen Kündigungsschutz berufen können, durch die verweigerte Gleichstellung als wahlberechtigte Schwerbehinderte von der Wahl der Schwerbehindertenvertretung ausgeschlossen (§ 94 Abs. 2 SGB IX).
Völlig außer Betracht durch die Bundesagentur für Arbeit bleiben im Rahmen der Entscheidung über die Anträge auf Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen offenkundig auch die Bestimmungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Denn wenn man in das AGG mal einen Blick werfen würde, dürften die Bestimmungen des § 2 Ziffer 6 i. V. m. § 1 AGG nicht zu übersehen sein. Benachteiligungen aus einem in § 1 AGG genannten Grund sind nach Maßgabe dieses Gesetzes unzulässig in Bezug auf die sozialen Vergünstigungen eines behinderten Menschen. Im vorliegenden Beispielsfall werden bei Nichtanerkennung der Gleichstellung die Arbeitnehmer*innen denen die Bundesagentur für Arbeit die Gleichstellung verweigert benachteiligt, da sie nicht in den Genuss des tarifvertraglich zustehenden Mehrurlaubs von 5 Arbeitstagen pro Kalenderjahr kommen, die jedoch allen anderen mit den Schwerbehinderten Gleichgestellten, die sich nicht auf einen besonderen Kündigungsschutz berufen können, gewährt werden. Offenkundig geht die Bundesanstalt für Arbeit davon aus, dass Behinderte, denen ein besonderer Kündigungsschutz zur Seite steht, ein geringeres Erholungsbedürfnis haben als vergleichbare gleichgestellte Kollegen*innen, die sich nicht auf einen besonderen Kündigungsschutz berufen können.
⇒ Es ist zu hoffen, dass die bei der Bundesanstalt für Arbeit zur Entscheidung über die Anträge auf Gleichstellung mit den schwerbehinderten Menschen berufenen Sachbearbeiter*innen, im Lichte der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 06.08.2014, von ihrer bisherigen Praxis Abstand nehmen und im Rahmen der Entscheidungsfindung auch Gründe unterhalb der Schwelle der Kündigung mit einbeziehen.
Hans-Martin Wischnath, Onlineredakteur, Frankfurt am Main
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