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Was Arbeit wert ist

Volkswirtschaftler warnen Gewerkschaften regelmäßig, keine „überzogenen“ Forderungen zu stellen. Solche würden nur die „Lohn-Preis-Spirale“ in Gang setzen und die Inflation beflügeln. Das meinen jedenfalls die Anhänger der herrschenden neoklassischen Theorie. An dieser Theorie bestehen einige Zweifel. Und sie ist tendenziell gewerkschaftsfeindlich.

Die umlaufende Geldmenge entsteht nicht durch höhere Löhne, sondern durch Kredite. Streiks sind niemals ein Inflationsrisiko! © Adobe Stock - Co-Design
Die umlaufende Geldmenge entsteht nicht durch höhere Löhne, sondern durch Kredite. Streiks sind niemals ein Inflationsrisiko! © Adobe Stock - Co-Design

Um es vorwegzunehmen: das hier ist kein wirtschaftswissenschaftlicher Fachaufsatz. Der Autor ist Jurist und kein Ökonom. Über die Streitigkeiten der Ökonomen und den Details ihrer Theorien soll der Artikel auch keine Aussagen machen. Das will ich mir gar nicht anmaßen. Für die Schlussfolgerungen in diesem Artikel ist aber auch kein wirtschaftswissenschaftliches Studium nötig. Es reicht qualifiziertes Allgemeinwissen.

Nach unserer Rechtsordnung sind die Tarifpartner im Wesentlichen für die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen verantwortlich. Deshalb ist das Streikrecht auch durch das Grundgesetz geschützt. Nur Arbeitskämpfe geben Gewerkschaften die Möglichkeit, Druck auf Arbeitgeber aufzubauen und sich für ihre Arbeitnehmerrechte und angemessene Löhne einzusetzen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) schützt Art. 9 Abs. 3 GG zum einen den Einzelnen in seiner Freiheit, eine Vereinigung zur Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu gründen, ihr beizutreten oder sie zu verlassen. 

Das Streikrecht ist durch unser Grundgesetz geschützt

Geschützt ist zum anderen auch die Koalition (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) selbst in ihrem Bestand, ihrer organisatorischen Ausgestaltung und ihren Betätigungen, sofern diese der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen. Der Schutz erstreckt sich dabei auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen und umfasst insbesondere die Tarifautonomie, die im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeiten zur Verfolgung ihrer Zwecke steht. Davon ist auch das Streikrecht erfasst.

Es dürfte deshalb unter allen, die die demokratische Ordnung der Bundesrepublik achten, auch kaum jemanden geben, der das Koalitionsrecht und das Recht auf Arbeitskämpfe grundsätzlich in Frage stellt. Deshalb wählen eher neoliberal denkende Zeitgenossen mittelbare Angriffe auf das Streikrecht. So forderte ausgerechnet der Deregulierungs-Fan Christian Lindner, im Nebenberuf Vorsitzender der FDP, im Dezember im Deutschlandfunk, das Streikrecht stärker zu regulieren. Diese Forderung stützt etwa auch der Wirtschaftsflügel der CDU.

Seit Jahren mischen sich Ökonomen, Politiker*innen und Hauptstadtjournalisten aber auch gerne ein, indem sie öffentlich vor angeblich maßlosen Forderungen der Gewerkschaften warnen. Von rechts bis weit hinein in die Linke wird vor drohender Inflation gewarnt, was bei Deutschen seit dem 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts ja immer zieht. Dabei kolportieren sie eine Theorie, der kaum noch widersprochen wird.  Die sogenannte „Lohn-Preis-Spirale“.

Viele sehen einen „wechselseitigen Zusammenhang“ zwischen Lohn- und Preiserhöhungen

Es geht um einen angeblichen „wechselseitigen Zusammenhang“ zwischen Lohn- und Preiserhöhungen. Aufgrund von Anpassungsreaktionen der Gewerkschaften und Unternehmen soll eine Kettenreaktion ausgelöst werden, die hauptverantwortlich für eine Inflation sein soll: Arbeiter*innen bekommen einen höheren Lohn. Deshalb erhöhen Unternehmen ihre Preise, was wieder neuere Forderungen der Gewerkschaften „provoziert“.

Der wohl bekannteste deutsche Ökonom, der regelmäßig auf die inflationäre Wirkung der „Lohn-Preis-Spirale“ hinweist ist der ehemalige Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. Der Mann mit Lincoln-Bart, Deutschlands kompetentester Danebenlieger Hans Werner Sinn. Jener Herr Sinn, der seit Jahren durch sämtliche Talkshows tobt und warnend den Zeigefinger erhebt, wenn es um Staatsschulden oder höhere Löhne geht. 

Wie vor einigen Jahren, als er nicht müde wurde, vor einem gesetzlichen Mindestlohn zu warnen. Hunderttausende von Arbeitsplätzen würden verloren gehen, wenn alle Beschäftigten einigermaßen menschenwürdig entlohnt würden, meinte er seinerzeit. Tatsächlich hat die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes nachweislich eher positive Effekte auf den Arbeitsmarkt gehabt. 

Beeinflussen Arbeitslöhne Preise für Waren auf dem Markt wirklich in nennenswertem Umfang? 

Was verursacht eigentlich Inflation? Die klassische Volkswirtschaftslehre unterscheidet zwischen Angebots- und Nachfrageinflation. Bei ersterer steigen die Preise von Produktionsfaktoren, zu denen auch die Arbeitslöhne gehören. Das soll Unternehmen dazu veranlassen, ihre Preise zu erhöhen. Das kann aber ja nur dann richtig sein, wenn Arbeitslöhne wirklich den Preis der Produkte maßgeblich beeinflussen. 

Dabei ist unter Wirtschaftswissenschaftlern gar nicht ausgemacht, was am Markt eigentlich wirklich die Preise bestimmt. Das wirtschaftspolitische Handeln wird seit etwa 150 Jahren durch die Grenznutzenschule oder Neoklassik beherrscht. Ausschlaggebend für Preise am Markt ist nach dieser Theorie die subjektive Wertschätzung seiner jeweils letzten Einheit („Grenzeinheit“). Die Theorie geht von einem „Vollkommenen Markt“ aus, auf dem der Wert eines Gutes sich aus seinem Grenznutzen und seinen Grenzkosten ergibt. Mit anderen Worten: durch Angebot und Nachfrage.

Es ist daher bereits gemäß der herrschenden Volkswirtschaftslehre, der auch unser Professor Unsinn anhängt, höchst fraglich, ob die Höhe der Arbeitslöhne wirklich wesentlich zur Preisbildung beiträgt. Die Neoklassik hat aber eine große Schwäche. Arbeitslöhne stehen für sie gar nicht in Zusammenhang mit dem Wert einer Ware. Arbeitnehmer*innen sind nur ärgerliche Kostenfaktoren.

In der Neoklassik sind Arbeitnehmer*innen nur Kostenfaktoren, die keinen nennenswerten Wert schaffen

Die Neoklassik hatte im 19. Jahrhundert die klassische Nationalökonomie als herrschende Volkswirtschaftslehre abgelöst. Also die Lehre, die im Wesentlichen von britischen Nationalökonomen wie Adam Smith und David Riccardo geprägt wurde. Anders als die Neoklassik geht die klassische politische Ökonomie von der Arbeitswertlehre aus.

Der bestimmende Faktor für den Preis einer Ware ist demnach die für die Produktion notwendige Arbeitszeit. Die Grenznutzentheorie lehnt den Einfluss der Arbeitszeit auf den Preis dagegen vehement ab.  Für sie ist allein der Gebrauchswert der Ware entscheidend. Dieser ist aber seltsamerweise variabel. Wenn ich Hunger habe, hat etwa ein Käsebrötchen für mich einen erheblich höheren Gebrauchswert, als wenn ich satt bin.

Überhaupt lässt sich der Gebrauchswert einer Ware abstrakt nur schwer fassen. Vielmehr variiert dieser doch je nach potenziellem Kaufinteressenten. Trotzdem halten die allermeisten Volkswirtschaftler an der Grenznutzentheorie fest und weisen gerne darauf hin, dass die Anhänger der Arbeitswerttheorie auch nichts über Preisentwicklungen voraussagen könnten, was der Theorie angeblich widerspricht. Dabei hat das weder Smith noch Riccardo oder ein anderer klassischer Nationalökonom je behauptet, Preise prognostizieren zu können.

Auch die politische Ökonomie ging davon aus, dass Preise durch Märkte reguliert werden. Der Grenzwert wird aber nicht durch den Nutzen bestimmt, sondern durch Maß der notwendigen Arbeit.

Auch Neoklassiker bezweifeln, dass Arbeitslöhne Preise wesentlich beeinflussen

Neoklassiker wie Hans-Werner Sinn geben denn auch häufig zu erkennen, dass sie die Arbeitswerttheorie nicht vollständig erfasst haben. In einem Essay zu Marx in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ schreibt Sinn 2017 wörtlich: „Die Behauptung, dass sich die relativen Güterpreise in der Marktwirtschaft grundsätzlich nach der in den Waren steckenden Arbeitszeit richten, ist schlichtweg falsch, denn erstens sind die Löhne nur eine von vielen Kostenkomponenten einer Firma und zweitens sind Preise grundsätzlich Knappheitspreise, die ihren Wert auch von den Präferenzen und der gegenseitigen Konkurrenz der Nachfrager herleiten. Was hat beispielsweise der Preis eines Gemäldes von Rembrandt mit dem Lohn des Meisters zu tun? Was hat der Preis des Erdöls mit dem Lohn der Arbeiter am Bohrloch zu tun? Nichts, oder so gut wie nichts.“

Zunächst fällt auf, dass Sinn plötzlich doch der Meinung ist, dass Lohnkosten nichts mit den Preisen zu tun haben. Zudem zeigt er aber auch ein erstaunliches  - für einen Wirtschaftsprofessor- Nichtwissen, wenn es um die Arbeitswerttheorie geht. Sie geht überhaupt nicht davon aus, dass es eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Preis einer Ware und der für deren konkreten Produktion aufgewendeten Arbeitszeit geht.

Der Tauschwert einer Ware wird durch das in sie vergegenständlichte Maß an gesellschaftlicher Arbeit bestimmt

Der bekannteste deutschsprachige Vertreter der Arbeitswerttheorie war Karl Marx. Danach muss eine Ware auch nach dieser Theorie einen Gebrauchswert haben, um überhaupt den Charakter einer Ware zu besitzen. Was niemand braucht, kann nicht für einen Markt bestimmt sein. Der Gebrauchswert sagt aber nichts über den tatsächlichen Wert einer Ware am Markt aus. Denn der Gebrauchswert ist höchst individuell. Was der eine dringend benötigt, ist für einen anderen vielleicht nur ein „Nice to have“.

Der Preis korrespondiert vielmehr mit dem Tauschwert einer Ware. Und dieser wird bestimmt durch die für die Produktion notwendige gesellschaftliche Arbeit. Zum einen heißt das, dass nicht die konkrete Arbeitszeit, die in einem Produkt steckt, dessen Tauschwert bestimmt. Entscheidend ist vielmehr die Arbeitszeit, die von der Gesellschaft im Durchschnitt erwartet werden kann. Zum anderen ist „gesellschaftlich notwendig“ auch die Ausbildung des oder der beteiligten Produzenten, aber auch alles was sonst noch wichtig für den Produktionsprozess ist. Marx unterscheidet hier zwischen konkreter und abstrakter Arbeit.

Ein Produkt hat gemäß der Arbeitswerttheorie einen Tauschwert nur dann, wenn es auch einen Gebrauchswert hat. Nur dann finden sich am Markt überhaupt Interessenten, für die der Tauschwert interessant sein könnte.  Dieser ist nichts anderes als die im Produkt vergegenständliche Arbeit und bildet die Grundlage dessen, was der durchschnittliche Kunde bereit ist, als Preis zu akzeptieren. Angebot und Nachfrage sind also auch in der Arbeitswerttheorie nicht ganz uninteressant, wenn es nicht um den Wert, sondern den Preis einer Ware geht.

Die Neoklassik verneint den Faktor Arbeit für den Tauschwert, weil sie Ausbeutung verneint

Der Grenznutzentheorie geht es auch im Wesentlichen darum, der Arbeit überhaupt jeden Einfluss auf die Wertbildung abzusprechen und das hat seinen Grund. Für Marx bildet sie die Grundlage seiner Theorie von Mehrwert und Ausbeutung. Wenn Arbeit der einzige Faktor ist, der den Wert einer Ware am Markt bestimmt, stünde ja denjenigen, deren Arbeit in der Ware steckt, auch der Erlös zu. Also die Differenz zwischen Produktionskosten (ohne Arbeit) und dem Preis. Indessen bekommen Arbeitnehmer*innen nur einen Teil des Wertes als Lohn ausgekehrt, den sie erarbeitet haben. 

Das ist exakt das, was Marx als Ausbeutung bezeichnet hat. Das war für ihn nämlich keine moralische Komponente und sagt auch nichts über das Ausmaß aus. Es geht einfach darum, dass den eigentlichen Herstellern eines Produkts nur ein Teil des Wertes herausgegeben wird, den sie geschöpft haben. Den Rest, den „Mehrwert“, behalten die Eigentümer der Produktionsmittel als „Beute“. Und das zu Recht, denn so funktioniert Kapitalismus nun einmal.

Arbeitnehmer*innen haben nur die Möglichkeit, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen und kollektiv für einen größeren Anteil am geschöpften Wert zu kämpfen. Und genau darum geht es, um den Anteil am Tauschwert, der denjenigen zustehen soll, die diesen Wert überhaupt erst produziert haben zulasten des Anteils, den der Eigentümer oder die Shareholder „erbeuten“. Preise werden dadurch kaum beeinflusst.

Die Geldmenge wird nicht durch höhere Löhne vermehrt, sondern durch Kredite privater Banken

Und die Inflation? Nicht zu bestreiten ist, dass die Höhe der Arbeitsentgelte auch „Kauflust“ und „Kaufzurückhaltung“ beeinflussen, im Übrigen Ausdrücke aus der euphemistischen Schatzkammer der Neoklassiker: Millionen von Beschäftigte aus dem Niedriglohnsektor und Hartz-IV-Empfänger üben „Kaufzurückhaltung“ und beschließen mit der Anschaffung eines Neuwagens aus taktischen Gründen noch etwas zu warten. 

In wesentlichen hat Inflation eher etwas mit Geldmengenpolitik zu tun. Und die machen Staaten und Landeszentralbanken nur noch in geringen Umfang. Gedrucktes und gestanztes Geld, Zentralbankgeld also, macht nur noch einen sehr geringen Teil des umlaufenden Geldes aus. Wieviel weiß keiner genau. Es ist aber ein Anteil irgendwo im einstelligen Prozentbereich.

Das mit Abstand meiste Geld entsteht als Buchgeld dadurch, dass private Banken Kredite vergeben. Wenn ich also bei einer Bank ein Darlehen von 10.000,00 € aufnehme, nimmt sie diesen Betrag nicht irgendwo aus einer Schublade oder einen Tresor. Das Geld entsteht vielmehr genau in dem Augenblick, in dem ich es von der Bank gutgeschrieben bekomme. Vorher war es gar nicht da. Wenn ich den Betrag in Raten zurückzahle, verschwindet das Geld wieder sukzessive. Übrig bleiben nur die Zinsen, die ich gezahlt habe und die gehören jetzt der Bank. 

Die größten Krisen haben nicht Inflationen verursacht, sondern Deflationen

Über die Menge des umlaufenden Geldes entscheiden mithin im Wesentlichen private Banken. Die Zentralbanken können die Geldmenge hauptsächlich durch die Basiszinsen etwas beeinflussen. 

Das alles zeigt, dass Gewerkschaften und ihre Forderungen Preise am Markt nicht wesentlich beeinflussen und dass sie auch eher nicht für die Inflation verantwortlich sind. Die Preise steigen in einer kapitalistischen Marktwirtschaft tendenziell immer. Ohne eine Inflation würde Kapitalismus gar nicht funktionieren. Die größten Krisen haben auch nicht Inflationen verursacht, sondern deren Gegenteil, die Deflationen.  Ein Beispiel ist die große Krise am Ende der Weimarer Republik, die letztlich in den Faschismus geführt hat.

Die Europäische Zentralbank hat deshalb als Ziel auch eine Inflation von etwa zwei Prozent formuliert. Schlimm ist eine Inflation also nicht für den Kapitalismus, jedenfalls solange sie nicht zur Hyperinflation wird, also zu einer unkontrollierbaren Inflation mit extrem hoher monatlicher Rate.

Schlimm ist eine Geldentwertung aber für Gering- und Normalverdiener, wenn nicht gleichzeitig ihre Einkommen wachsen. Die Forderung nach höheren Löhnen setzt aber keine Spirale in Gang. Für die Inflation sind vielmehr andere Faktoren verantwortlich. Im Wesentlichen gehört dazu die Geldmenge, die durch die Kreditvergabe privater Banken bestimmt wird.

Wenn wir als Gewerkschafter*innen unsere berechtigten Forderungen in Arbeitskämpfen durchsetzen wollen, nehmen wir ein uns zustehendes Grundrecht wahr. Weder wird dadurch das Abendland untergehen noch schädigen wir dadurch die Allgemeinheit. Es geht darum, dass wir ein möglichst großes Stück von dem Kuchen haben wollen, den wir selbst gebacken haben. Wenn wir das nicht machen, wird unser Anteil immer kleiner und der Kuchen macht uns irgendwann nicht einmal mehr satt. 

Dietmar Christians, Rechtsschutzsekretär und Online-Redakteur, DGB Rechtsschutz GmbH,Hauptverwaltung - Frankfurt am Main
Autor*in:
Dietmar Christians
Online-Redakteur (ehemals Rechtsschutzsekretär)
Onlineredaktion - Hauptverwaltung - Frankfurt am Main