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125 Jahre Gewerkschaftlicher Rechtsschutz

Am 1. November 1894 eröffnete in Nürnberg das erste Arbeitersekretariat. Das Arbeitersekretariat war Anlaufstelle für rechtssuchende Arbeiterinnen und Arbeiter. Es markiert damit den Beginn der institutionalisierten Rechtshilfe als Bestandteil der gewerkschaftlichen Arbeit.

Am 1. November 1894 eröffnete das erste Arbeitersekretariat. Es ist Vorläufer des modernen gewerkschaftlichen Rechtsschutzes. Quelle © AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung
Am 1. November 1894 eröffnete das erste Arbeitersekretariat. Es ist Vorläufer des modernen gewerkschaftlichen Rechtsschutzes. Quelle © AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung

Der Rechtsschutz ist heute selbstverständlicher Teil der Gewerkschaft. Gewerkschaftsmitglieder haben Anspruch darauf, in rechtlichen Fragen beraten und im Konfliktfall auch gegenüber ihren Arbeitgebern oder den Sozialversicherungsträgern vor Gericht vertreten zu werden. Diese Leistung bringen die Gewerkschaften als Teil ihrer satzungsmäßigen Aufgabe. Zum Teil erbringen sie diese durch eigene Beschäftigte, zum Teil durch die DGB Rechtsschutz GmbH.
 

Der Beginn des gewerkschaftlichen Rechtsschutzes

Der Beginn des Rechtsschutzes als breit aufgestellte Institution ist die Gründung der Arbeitersekretariate. Zwar gab es schon Anfang des 19. Jahrhunderts, insbesondere im Bergbau, sogenannte Rechtsschutzvereine, die den Bergleuten bei ihren Beschwerden gegen die Oberbergämter halfen. Mit den Arbeitersekretariaten dehnte sich diese Möglichkeit jedoch auf die gesamte Arbeiterschaft aus. Der Rechtsschutz war umfassender und professioneller.
 
Die Bismarck'sche Sozialgesetzgebung (1889 Invaliditäts- und Alterssicherungsgesetz, 1883 Krankenversicherungsrecht, 1884 Unfallversicherungsgesetz) hatte Ende des 19. Jahrhunderts zwar neue Ansprüche für die Arbeiterinnen und Arbeiter geschaffen, diese waren jedoch zum Teil nur schwer zu verstehen und noch schwieriger durchzusetzen. Das Bedürfnis an qualifizierter Rechtsberatung war also erheblich gewachsen.
 
Dies umso mehr, als dass zu dieser Zeit die Arbeiterschaft in den Städten schon beträchtlich gewachsen war. So stieg in Nürnberg die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder zwischen 1895 und 1914 von 6500 auf mehr als 58.000. Im gleichen Maße, wie sich die Gewerkschaften und die SPD als Massenvereinigungen entwickelten, wuchs auch das Bedürfnis nach Rechtsschutz.
 
Nicht verwunderlich ist daher, dass das 1894 gegründete Arbeitersekretariat in Nürnberg nicht nur schnell und nachhaltig wuchs, sondern auch viele Nachahmer fand: Bereits drei Jahre später wurde ein zweites Sekretariat in Stuttgart gegründet, im Folgejahr weitere sechs, darunter in München, Hannover und Jena. Bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs wuchs die Zahl die Arbeitersekretariate auf insgesamt 127.

 
Quelle © AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung

Die Einrichtung des ersten Arbeitersekretariats in Nürnberg

Vor dem Hintergrund der neuen Sozialgesetzgebung sowie der für den Arbeitsschutz zuständigen Fabrikinspektoren hatte es bereits in den 1880er Jahren Überlegungen gegeben, eine zentrale Auskunftsstelle zu schaffen.
 
Diese Überlegungen gipfelten in einem Artikel des Nürnberger Sozialdemokraten und Landtagsabgeordneten Karl Grillenberger vom 18. September 1891 mit dem Titel „Eine neue Aufgabe der Gewerkschaften“. Er meinte hiermit die Rechtsauskunft und Rechtshilfe insbesondere im Bereich der Sozialversicherung. Dabei plädierte er dafür, diese neue Dienstleistung ausschließlich Gewerkschaftsmitglieder zukommen zu lassen.
 
Die Gründung einer solchen Einrichtung lehnte der Gesamtverband der Metallarbeiter wie eine Konferenz der Nürnberger Gewerkschaftsvorstände Anfang 1892 zunächst ab. Um die Nachfrage jedenfalls teilweise befriedigen zu können, schuf Anfang 1894 eine Versammlung von Gewerkschaftsmitgliedern eine Kommission, deren Aufgabe es sein sollte, Beschwerden an die Fabrikinspektoren weiterzugeben.
 
Die Kommission nahm am 8. März 1894 ihre Arbeit auf und tagte zunächst an einigen Abenden in der Woche. Da sie jedoch schon bald mit der Vielzahl der Fälle überfordert war, kam es bereits am 28 April zu einer weiteren Versammlung der Nürnberger Gewerkschaftsmitglieder, an der etwa 2000 Männer teilnahmen. Die Teilnahme von Frauen und Minderjährigen war von der Versammlungsbehörde nicht zugelassen worden.
 
Unter dem Vorsitz von Karl Grillenberger referierte Karl Oertel über die Aufgaben eines zu gründenden Arbeitersekretariats. Dieses sollte Rechtsauskunft in Fragen der Sozialversicherung geben, die Arbeitsschutzbestimmungen überwachen sowie Statistik führen. Finanziert werden sollte diese Stelle durch einen zusätzlichen Gewerkschaftsbeitrag sowie durch einen Zuschuss der Stadt Nürnberg. Die Versammlung stimmt diesen Vorschlägen zu und setzte außerdem eine Kommission ein, die das Arbeitersekretariat ins Leben rufen sollte.
 
Zu einem Zuschuss der Stadt Nürnberg kam es später nicht, da diese die Zahlung davon abhängig machen wollte, dass das Arbeitersekretariat unter ihrer Aufsicht und Leitung stehen sollte. Die Finanzierung erfolgte dann ausschließlich durch einen zusätzlichen Gewerkschaftsbeitrag in Höhe von zwei Pfennigen in der Woche, den allein die etwa 3500 Arbeiter aufbrachten.
 
Schließlich beschloss eine allgemeine Arbeiterinnen- und Arbeiterversammlung am 13. September 1894 die Einrichtung eines Arbeitersekretariats. Beschlossen wurden auch ein Statut, ein Arbeitsplan sowie eine Geschäftsordnung. Erster Arbeitersekretär wurde der bisherige Arbeiterredakteur Martin Segitz, der schließlich am 1. November 1894 i in einem Büro im ersten Stock des Hauses Maxplatz 33 seine Arbeit aufnahm.
 

Organisation, Ausstattung und Finanzierung

Das Arbeitersekretariat unterstand einer Kommission von acht Personen, die in einer öffentlichen Versammlung der Nürnberger Arbeiter zu wählen waren. Dabei sollten möglichst alle Industriezweige vertreten sein. Später waren nur noch die diejenigen Arbeiter stimmberechtigt, die entweder Mitglied einer Gewerkschaft waren, oder aus anderen Gründen den Beitrag für das Sekretariat entrichteten.
 
In einer Satzungsänderung von 1909 wurde die Aufsichtsstelle schließlich ganz aufgelöst. Die Kommission wurde durch einen Ausschuss der vereinigten Gewerkschaften abgelöst, der in der Jahresversammlung der vereinigten Gewerkschaften gewählt wurde. Der Sonderbeitrag in Höhe von zwei Pfennigen ging im allgemeinen Gewerkschaftsbeitrag auf.
 
War das Arbeitersekretariat ursprünglich also ein aus dem Bedürfnis nach Rechtsauskunft und Rechtshilfe heraus entstandenes Institut kollektiver Selbsthilfe der organisierten Arbeiterschaft, so ging dies allmählich ganz in die Hoheit der Gewerkschaften über. Dies aber offenbar im besten Einvernehmen mit den beteiligten Stellen.
 
Die Leistungen des Arbeitersekretariats waren von Anfang an allen Betroffenen kostenfrei zugänglich. Dies änderte sich auch nicht durch Übernahme der Verantwortung durch die Gewerkschaften.
 
Die Generalskommission, der Dachverband der Gewerkschaften, strebte zwar eine einheitliche Regelung dahingehend an, dass nur organisierte Arbeiter unentgeltlich Auskunft erhalten sollten, sie setzte sich damit jedoch nicht durch. Im Jahre 1913 erteilten neben dem Nürnberger Arbeitersekretariat weitere 129 Sekretariate Auskünfte an alle Besucher.
 
Dem mag die Überlegung zugrunde gelegen haben, durch die unentgeltlichen Dienste einen gewissen moralischen Druck auf den Begünstigten ausüben zu können. In jedem Fall stieg der Organisationsgrad der Rechtsuchenden von etwa 30-38 % im Jahre 1904 auf 78,4 % im Jahre 1913.
 

Entwicklung des Nürnberger Arbeitersekretariats bis zum Ersten Weltkrieg

Und dies bei insgesamt steigender Nachfrage: erteilte Arbeitssekretär Segitz im Jahre 1894/95 noch 6839 Auskünfte, so waren dies im Jahre 1906 schon 21.144 und im Jahre 1913 18.081. Damit war das aber Sekretariat die meistbesuchte Organisation dieser Art in Nürnberg. Das katholische Arbeitersekretariat erteilte im Jahr 1912 lediglich 7175 Auskünfte, dass Hirsch-Dunkersche lediglich 1504.
 
Aufgrund der rasch wachsenden Beliebtheit wurde bereits 1895 ein zweiter Sekretär eingestellt, im Jahre 1898 ein dritter, 1906 ein vierter und 1912 ein fünfter. Neben dem Büro wurde daher zunächst ein Warteraum angemietet, im Jahr 1898 zog das Sekretariat in die Weintraubengasse 3.
 
Im November desselben Jahres erfolgte ein weiterer Umzug in das Anwesen des Frauenstifts am Egidienplatz 22 und schließlich in den Neubau der fränkischen Tagespost in der Breiten Gasse 25/27. Das Büro verfügte auf etwa 170 m² über sieben Räume und war mit Dampfheizung und elektrischem Licht ausgestattet.
 
Dabei war die Ausstattung des Arbeitersekretariats zunächst eher spärlich. Das ursprüngliche Büro am Marktplatz war nur mit dem allernötigsten ausgestattet. Das Budget für Bürobedarf lag monatlich bei zehn Mark, Ausgaben über drei Mark bedurften einer besonderen Genehmigung. Bereits die Anschaffung eines Gummistempels erforderte eine ausgiebige Diskussion.
 
Dennoch verbesserte sich die Ausstattung schrittweise: 1895 wurden ein Schreibtisch und ein Regal angeschafft, 1897 ein Telefon, 1898 eine Schreibmaschine und 1899 ein Vervielfältigungsapparat und eine Heftmaschine. 1902 wurde eine zweite, 1909 sogar die vierte Schreibmaschine angeschafft.
 

Tätigkeit der Arbeitersekretäre

Die Tätigkeit des Arbeitersekretariats war in seiner Satzung festgelegt. An erster Stelle standen Rechtsauskunft und Rechtshilfe, außerdem die Weiterleitung von Beschwerden an Fabrik und Gewerbeinspektoren sowie sozial statistische und sozialpolitische Arbeit inklusive umfangreicher Jahresberichte sowie die allgemeine Gewerkschaftsarbeit.
 
Es ging dem aber Sekretariat nicht allein darum, den Arbeitern zu ihrem Recht zu verhelfen, sondern diese auch rechtlich zu schulen und damit die Gewerkschaftsbewegung zu stärken. Auch eine gedeihliche Zusammenarbeit mit den Behörden mag eine Rolle gespielt haben.
 
Ursprünglich gegründet, um Hilfestellung in sozialversicherungsrechtlichen Fragen zu geben, beschäftigte sich das Arbeitersekretariat mit einer Vielzahl von Rechtsfragen, insbesondere auch des bürgerlichen Rechts und des Dienstbotenrechts. Ab 1906 traten die Arbeitersekretäre auch bei Gericht auf.

 
Quelle © AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung

Rechtliche Schwerpunkte

Im Sozialversicherungsrecht dominierten Rechtsstreitigkeiten gegen die Unfallversicherung, insbesondere um Unfallrente. Die Verfahren waren umständlich und langwierig, dass Verhalten der Berufsgenossenschaft und die ärztlichen Gutachten oft feindselig, was damit zusammenhängen mag, dass die Berufsgenossenschaften ausschließlich von Unternehmen finanziert werden.
 
Im bürgerlichen Recht, dass etwa 31-38 % aller Auskünfte ausmachte, gab es eine Vielzahl von Streitgegenständen. Die Arbeitersekretäre berieten in Mietsachen, Familienrecht, Erbschaftssachen und vielen weiteren Bereichen. Das Strafrecht dagegen machte nur etwa 4-6 % aller Streitigkeiten aus, meistens Beleidigungen.
 
Einen weiteren großen Bereich mit etwa 9 bis 13 % der Auskünfte stellt das Arbeit und Dienstvertragsrecht dar. Hier ging es im Wesentlichen um Kündigungen und Lohnforderungen, aber auch um Fragen des Arbeitsschutzes, oder von Zeugnissen.
 
Auf den ersten Blick verwunderlich ist der hohe Anteil an Auskünften im Bereich Gemeinde und Staatsangelegenheiten (14 bis 21 %). Erklärlich wird dies aber, wenn man bedenkt, dass an den Status als Bürger sowohl das Wahlrecht, als auch die Armenunterstützung geknüpft war.
 
Die Entwicklung des Arbeitersekretariats Nürnberg von seiner Gründung bis zum Ersten Weltkrieg ist geprägt von einem rasanten Wachstum an Nachfrage und damit an Kapazität, der Integration und das Dach der Gewerkschaft sowie einer Ausdehnung der Aufgaben. Dabei blieb die Rechtsberatung stets für alle kostenfrei, wobei sich der Organisationsgrad der Rechtsuchenden deutlich erhöhte.
 

Bedeutung der Arbeitersekretariate

Die sich in Anschluss an die Nürnberger Gründung rasch ausbreitenden Arbeitersekretariate spielten eine zentrale Rolle insbesondere für die politische Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg. Das Amt des Arbeitersekretärs bot Menschen eine Aufstiegschance, die sie im Kaiserreich sonst mangels Vermögen oder Mobilität nicht gehabt hätten.
 
In ihrer Tätigkeit bekamen die Arbeitersekretäre K:„vielfach Gelegenheit, Einblick in das Leben, die Kämpfe, die Bedürfnisse, die Streitfälle, die Nöte der Arbeiterklasse zu gewinnen, sie führen uns mit allen Schichten und Berufen der Arbeiterschaft zusammen, sie geben uns Aufschlüsse über die Familienverhältnisse im Proletariat :K“, wie der Arbeitersekretär und spätere Reichstagsabgeordnete Adolf Braun schreibt.
 
Die Arbeitersekretäre verstanden sich also als Streiter für das Recht der Arbeiter in einem umfassenden Sinne. Die Rechtsberatung und -vertretung stellte dabei nur einen Teilaspekt dar. Viele Arbeitersekretäre engagierten sich politisch, traten als Redner bei Gewerkschaftsversammlungen auf und waren lokal gut vernetzt.
 
Martin Segitz vom Nürnberger Arbeitersekretariat wurde im März 1919 Präsident und Innenminister der bayerischen Räterepublik, andere Arbeitersekretäre waren Abgeordnete, Minister, oder gar Reichskanzler. Der prominenteste Arbeitersekretär ist zweifellos der spätere Reichspräsident Friedrich Ebert.

Dr. Till Bender, Abteilungsreferent, Pressesprecher, Redakteur „Arbeit und Recht"
Autor*in:
Dr. Till Bender
Abteilungsreferent, Pressesprecher, Redakteur „Arbeit und Recht"
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