Die Dolchstoßlegende – Geburtstag einer fatalen Verschwörungstheorie
Verschwörungstheorien und „Fake News“ sind keine Erfindungen unserer Zeit. Auch ohne Internet und soziale Medien verbreitete sich solcher Unsinn schon vor hundert Jahren, wenn auch nicht ganz so schnell wie heute. Nicht immer bleiben erfundene Narrative ohne große Folgen. Beispiel für eine Verschwörungstheorie, die maßgeblich zum Scheitern einer Demokratie beigetragen hat, ist die sogenannte „Dolchstoßlegende“.
Das Ende des Ersten Weltkrieges und insbesondere dessen Ergebnis kam für viele Deutsche überraschend. Die Oberste Heeresleitung (OHL) unter den Generälen Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff hatte während des Krieges im Grunde die Regierung des Deutschen Reiches übernommen. Bis Oktober 1918 hatte die OHL keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass der Sieg nur eine Frage der Zeit sei.
Die Reichsregierung soll „den Feind“ um Waffenstillstand bitten
Ludendorff verblüfte den amtierenden Reichskanzler von Hertling Anfang Oktober 1918, als er ihm zwei Befehle erteilte: in Deutschland seien unverzüglich demokratische Strukturen nach dem Vorbild der westlichen Demokratien unter Berücksichtigung der Reichstagsmehrheit einzuführen. Zudem sei „der Feind“ um sofortigen Waffenstillstand nachzusuchen. Letzteres war nichts anderes als die Aufforderung, unverzüglich zu kapitulieren.
Zum Ende des Kaiserreiches und der „Novemberrevolution“ hatten wir 2018 berichtet in unserem Artikel
Die OHL wollte sich damit aus der Verantwortung stehlen. Die Suppe, die Hindenburg und Ludendorff zusammen mit dem Kaiser und vielen ihrer Standesgenossen der Welt eingebrockt hatten, sollten diejenigen auslöffeln, für die sie bis dato nur Verachtung übrighatten. Vielleicht dachten sie auch, dass demokratische Politiker bei den „Feinden“, immerhin westliche Demokratien, bessere Karten hätten als altkaiserliche Monokelhelden.
Klar war jedenfalls, dass das Deutsche Reich vollkommen erledigt war
Erich von dem Busche, Major im Generalstab, berichtete am 2. Oktober 1918 vor den Fraktionsführern des Reichstages folgendes:
„(Die Oberste Heeresleitung musste) den ungeheuer schweren Entschluss fassen, zu erklären, dass nach menschlichem Ermessen keine Aussicht mehr besteht, dem Feinde den Frieden aufzuzwingen.
Entscheidend für den Ausgang sind vor allem zwei Tatsachen: die Tanks. Der Gegner setzt sie in unerwartet großer Menge ein … wo sie überraschend auftreten, waren ihnen häufig die Nerven unserer Leute nicht mehr gewachsen … Aus den Erfolgen der Tanks sind die hohen Gefangenenzahlen, die unserer Stärke so empfindlich herabsetzen und einen schnelleren Verbrauch der Reserven als bisher gewohnt, herbeiführen, zu erklären. Dem Feind gleiche Massen deutscher Tanks entgegenzustellen, waren wir nicht in der Lage. Sie herzustellen, ging über die Kräfte unserer auf Äußerste angespannten Industrie, oder andere wichtige Dinge hätten liegen bleiben müssen.“
Klar war jedenfalls, dass das Deutsche Reich vollkommen erledigt war. Die OHL hatte das Land in die völlige Katastrophe geführt. Hauptverantwortlich waren - neben dem freilich reichlich minderbegabten Kaiser - vor allem Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff.
Unermüdlich verbreiteten Hindenburg und Ludendorff fortan die Legende vom unbesiegten Heer
Das hinderte seltsamerweise die deutsche Presse nicht daran, in Beiden Helden zu sehen, denen für die Niederlage keine Verantwortung beizumessen ist. Gleich nach dem Krieg verbreiteten diese „Helden“ das Bild eines an der Front unbesiegten Heeres, dem die Heimat durch Friedensinitiativen, linke politische Agitation, Streiks und Sabotagen in den Rücken gefallen sei. Zu einer Zeit, als es zudem noch tief in „Feindesland“ gestanden habe.
Unermüdlich verbreiteten Hindenburg und Ludendorff fortan die Legende vom unbesiegten Heer. Man sei „in Feindesland besiegt dank der Verhältnisse daheim“. Den Dolch hatte Hindenburg bereits 2019 als Metapher parat. Vor dem Untersuchungsausschuss des Reichtages, der die Ursachen für den Krieg und dessen Ausgang aufklären sollte, sprach er von „planmäßige Zersetzung von Flotte und Heer als Fortsetzung ähnlicher Erscheinungen im Frieden“.
Wegen des pflichtwidrigen Verhaltens der revolutionären Kameraden hätten die Absichten der Führung nicht mehr zur Ausführung gebracht werden können. Und dann bemühte Hindenburg einen „englischen General“, dessen Namen er freilich nicht nannte. Dieser soll jedenfalls gesagt haben, die deutsche Armee sei von hinten erdolcht worden.
Vor hundert Jahren beginnt der Siegeszug einer Verschwörungstheorie
Am 6. Oktober 1921 erklärte Hindenburg in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“, dass das deutsche Heer im Weltkrieg verraten worden sei: “Vergeblich wehrt man als Legende ab den Dolchstoß von hinten - und doch haben wir täglich neue Beweise dafür. Unser herrliches Heer - und musste so zusammenbrechen!” Damit bekräftigte der von einem Großteil des deutschen Bürgertuns verehrten „Siegers von Tannenberg“ erstmals in einem Massenmedium seine erlogene These.
Fortan war der Erfolg dieser Verschwörungstheorie nicht mehr aufzuhalten. Sie gehörte zu den zentralen Bausteinen der Argumentation und Agitation rechtsradikaler Parteien wie der DNVP und der NSDAP. Hindenburgs Autorität konnten sie gegen die Weimarer Republik einsetzen. Ziel ihrer Agitation waren insoweit vor allem SPD und KPD, aber auch liberale Demokraten. Sie alle sahen sich fortan dem Vorwurf ausgesetzt, durch planmäßige Zersetzung der „Heimatfront“ den Dolch in den Rücken des Heeres gestoßen zu haben.
Zugleich erhielt die Dolchstoßlüge in den zwanziger Jahren eine immer radikalere antisemitische Richtung. Das „internationale Judentum“ mit seinem „undurchsichtig-verzweigten Netzwerk aus Unternehmen und Banken“ sei durch die Niederlage Deutschlands reichlich Profit zugeflossen, so kolportierten rechte Parteien, unterstützt durch die Hugenberg-Presse.
Selbstverständlich war die Dolchstoßlegende nicht allein verantwortlich für den Zusammenbruch der ersten deutschen Demokratie. Sie war aber ein wichtiger Teil antidemokratischer und antisemitischer Agitation. Und sie schien vielen Deutschen plausibel. Gerade ehemaligen Soldaten diente sie auch dazu, das Selbstwertgefühl aufzuwerten. Der Sieg wäre zum Greifen nahe gewesen, hätte nicht die „Heimatfront“, angeführt durch „vaterlandslose Sozialdemokraten“ und „jüdische Geschäftemacher“, sie schnöde verraten.
Die Geschichte zeigt, dass Verschwörungstheorien weitreichende Folgen haben können
Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 führte diese Verschwörungstheorie dann zum Erfolg. Der Republik wurde der Garaus gemacht, weil sie für das Elend, Massenarmut und hohe Arbeitslosigkeit, propagandistisch verantwortlich gemacht wurde. Dabei hatten Republik und Demokratie gar nichts mit der Krise zu tun. Grund der Krise war ein Versagen der damals wenig geregelten Finanzmärkte. Deren Ausmaß muss die Sparpolitik eines Heinrich Brüning vertreten.
Ganz offensichtlich sind wenig geregelte Märkte und eine Politik, deren Credo vor allem „Sparen“ ist, genau der falsche Weg, Finanzkrisen zu begegnen. Darüber sollte Politiker wie die „schwäbische Hausfrau“ Wolfgang Schäuble und andere Fans der „schwarzen Null“ einmal nachdenken.
Die Geschichte zeigt aber auch, dass Verschwörungstheorien, so abgedreht sie auch sein mögen, weitreichende Folgen haben können. Unter anderem die Dolchstoßlegende trug wesentlich zum Erfolg der Nazis bei den Wahlen Anfang der dreißiger Jahre bei. Im Januar 1933 leitete die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler das Ende der Weimarer Demokratie ein. Auch wenn bereits die Präsidialkabinette zuvor ihre Institutionen missbraucht hatten, wäre ohne Hitler als Reichskanzler eine Diktatur nicht zwangsläufig gewesen. Schon gar nicht eine faschistische.
Ernannt hat Hitler im Übrigen niemand Geringerer als der damals amtierende Reichspräsident. Der von nationalistischen Monokelträgern verehrte angebliche „Sieger von Tannenberg“, einer der Hauptverantwortlichen für den Weltkrieg und der Niederlage. Paul von Hindenburg.
Zur Vertiefung und Quellen: