Können sich die Richter aus Speyer gegen die Vorgaben aus Kassel durchsetzen oder werden sie am Schluss überrollt. Copyright by Adobe Stock/Elnur
Können sich die Richter aus Speyer gegen die Vorgaben aus Kassel durchsetzen oder werden sie am Schluss überrollt. Copyright by Adobe Stock/Elnur

Der Fall ist eigentlich leicht beschrieben. Der Kläger erkrankte und meldete dies seiner Krankenkasse. Anschließend erhielt er Krankengeld. Weil die Krankheit länger andauerte, stellte der Arzt eine Folgebescheinigung aus. Der Kläger sandte sie an seine Krankenkasse, nachdem er diese auch telefonisch über die weitere Arbeitsunfähigkeit informiert hatte.
 

Krankenkasse verweist auf Wochenfrist

Der Kläger reichte die Meldung nach. Die beklagte Krankenkasse zahlte dennoch kein Krankengeld. Sie gab dem Kläger zu verstehen, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erst eingegangen als die gesetzlich festgelegte Wochenfrist abgelaufen sei. Krankengeld müsse sie jedoch nur zahlen, wenn die Krankmeldung innerhalb einer Woche nach Beginn der jeweiligen Arbeitsunfähigkeit eingehe.
 
Genau um diese gesetzliche Bestimmung wurde im Verfahren gestritten. Der Kläger, vertreten durch das DGB Rechtsschutz Büro in Pirmasens, konnte sich letztlich gegen seine Kasse durchsetzen. Das Sozialgericht entschied nämlich im Gegensatz zur bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die Wochenfrist nur gelte, wenn eine Arbeitsunfähigkeit erstmals bescheinigt werde. Hier gehe es jedoch um eine Folgebescheinigung. Diese erfasse die Gesetzesregelung nicht.
 

Sozialgericht folgt der Rechtsprechung zur Wochenfrist nicht

Das Gericht führt in seiner Entscheidung ausdrücklich aus, dass es der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, wonach auch bei der Vorlage von Folgebescheinigungen eine erneute Meldefrist von einer Woche einzuhalten sein soll, nicht zu folgen vermag. Hier werde nämlich zum Nachteil des Versicherten eine Rechtsfolge unterstellt, die von den gesetzlichen Regelungen nicht gedeckt sei.
 
Das BSG habe zwar stets betont, dass die gesetzlichen Bestimmungen in allen Fällen „strikt zu handhaben“ seien. Allerdings wende auch das Bundessozialgericht selbst diese Norm nicht strikt nur auf die damit geregelten Fälle an. Es übertrage sie auch auf vergleichbare Sachverhalte, bei denen die (erste) Meldung bereits erfolgt sei, die Arbeitsunfähigkeit aber fortbestehe und der Arzt dafür auch weitere Atteste erteilt habe.
 

Wochenfrist für fortlaufende Arbeitsunfähigkeit ergibt sich nicht aus dem Gesetz

Es wäre zu begrüßen, wenn gesetzliche Vorschriften strikt angewandt würden, so das Sozialgericht. Die Pflicht, sich wiederholt immer wieder bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit innerhalb einer Woche bei der Krankenkasse durch Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu melden, ergebe sich aber nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes. Die Vorschrift stelle ausdrücklich nur auf den Beginn der Arbeitsunfähigkeit ab. Dort hieße es, dass „die Arbeitsunfähigkeit“ gemeldet werden müsse.
 
Daraus lasse sich nicht ableiten, dass auch eine fortbestehende Arbeitsunfähigkeit mehrmals gemeldet werden müsste. Auch die weitere Formulierung im Gesetz steht der wiederholten Meldung innerhalb einer Frist von einer Woche an die Kasse entgegen. Dort hieße es nämlich „dies gilt nicht, wenn die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit erfolgt“. Das Gesetz spreche mithin ausdrücklich von dem „Beginn“ und nicht von der weiteren Arbeitsunfähigkeit.
 

Arbeitsunfähigkeit hat nur einen einzigen Beginn

Auch eine Arbeitsunfähigkeit, die fortdauere, könne nur einen einzigen Beginn haben. Deshalb könne die gesetzlich geregelte Meldefrist auch nur einmal ablaufen. Sei diese Meldefrist erst einmal eingehalten, könne die Kasse das Krankengeld später nicht zum Ruhen bringen, wenn dann die Wochenfrist nicht eingehalten werde.
 
Das Bundessozialgericht weite den Bereich aus, in dem die Vorschrift angewandt werden könne. Dies geschehe zum Nachteil der Versicherten. Das widerspreche den eigenen Hinweisen des Bundessozialgerichts, die entsprechende gesetzliche Bestimmung nur „strikt“ anwenden zu wollen. Dennoch erfolge genau das nicht. Das Bundessozialgericht berücksichtige den Wortlaut des Gesetzes nicht strikt, sondern übertrage ihn auf vergleichbare Fälle.
 

Es gibt keine Regelungslücke im Gesetz

Diese Übertagung sei jedoch nicht zulässig. Es besteht nämlich keine Regelungslücke im Gesetz. Der Gesetzgeber habe ausdrücklich und eindeutig formuliert, was er gelten lassen wolle. Nur wenn eine Regelungslücke bestehe dürften Gerichte selbst entscheiden, wie vergleichbare Fälle gelöst werden könnten. Lasse der Wortlaut eines Gesetzes jedoch eine Entscheidung zu, dann dürfe ein Gericht keine andere Rechtsfolge bilden. Gerichte seien schließlich an Gesetze gebunden.
 
Angesichts dessen habe der Kläger auch nicht nachweisen müssen, dass er alles in seiner Macht stehende getan habe, um seine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei der Krankenkasse rechtzeitig einzureichen. Sein Anspruch auf Krankengeld habe in dem streitgegenständlichen Zeitraum nicht geruht.
 

Die Wochenfrist ist keine „absolute“ Frist

Folge man den Ausführungen des Gerichts zu Meldefrist nicht, sei zumindest darüber nachzudenken, dem Kläger eine Wiedereinsetzung zu geben.
 
Die Wochenfrist sei nämlich keine „absolute“ Frist, die der Kläger zwingend einhalten musste. Habe er die Frist ohne eigene Schuld versäumt, so sei er so zu behandeln, als habe er rechtzeitig gehandelt. Das geschehe durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
 

Bundessozialgericht hat auch hier noch nicht zugestimmt

Zwar werde auch hier aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts immer wieder gefolgert, dass eine solche Wiedereinsetzung ausgeschlossen sein müsse, da die höchstrichterliche Rechtsprechung sie für den besonderen Fall noch nicht bejaht habe.
 
Das Bundessozialgericht bilde auch zur Wiedereinsetzung immer wieder Ausnahmen für Einzelfälle. Damit sei es weder für Versicherte noch für Krankenkassen und auch nicht für die unteren Instanzen vorhersehbar, wann eine Frist gelte. Offenbar würden Ausnahmen immer nur dann anerkannt, nachdem das Bundessozialgericht sie geschaffen habe. Der Streit darum, ob nach einem Fristversäumnis eine Wiedereinsetzung gewährt werden könne stellte sich damit eher als Gnade denn als rechtlich begründbare Position dar.
 

Gesetz regelt Wiedereinsetzung abschließend

Dabei gebe es auch zur Wiedereinsetzung eine ausdrückliche gesetzliche Regelung. Das Gesetz sehe eine rechtlich nachvollziehbare Prüfung vor. Dabei gehe es darum, ob der Versicherte ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Ob dem Betroffenen dabei Wiedereinsetzung gewährt werden müsse, hänge nicht davon ab, ob der Behörde ein Verschulden anzulasten sei.
 
Bezogen auf die Gewährung von Krankengeld bedeute dies, dass die Zahlung nicht davon abhängig gemacht werden könne, ob es Organisationmängel bei der Kasse gegeben habe. Wenn der Versicherte seine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung rechtzeitig und korrekt versandt habe, spiele die Situation bei der Krankenkasse keine Rolle. Das Bundessozialgericht müsse dafür nicht schon Ausnahmefälle gebildet haben. Allein anhand des Gesetzes sei eine Entscheidung möglich.
 

Kläger hat den verspäteten Eingang der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht zu vertreten

Der Kläger habe seine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung rechtzeitig an die Kasse verschickt. Er habe damit alles ihm Mögliche und Zumutbare getan. Dass die Bescheinigung bei der Krankenkasse nicht angekommen sei, habe er nicht zu vertreten. Deshalb müsse ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden.
 
Allerdings - und dies war bei dieser Entscheidung durchaus zu erwarten - hat das Sozialgericht die Berufung zum Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zugelassen. Wegen grundsätzlicher Bedeutung wurde der Krankenkasse sogar die Möglichkeit eingeräumt, eine sogenannte Sprungrevision unmittelbar zum Bundessozialgericht einzulegen.

Hier geht es zum Urteil
 
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Das sagen wir dazu:

Es ist allzu selten in der Rechtsprechung, dass sich ein Gericht der untersten Instanz so deutlich gegen Entscheidungen des Bundessozialgerichts stellt. Für die Auslegung von Gesetzen ist das aber ganz wichtig. Nur dadurch kann sich die Rechtsdiskussion in den weiteren Instanzen auch umfassend zu vielen verschiedenen Fallvarianten oder auch Rechtsansichten weiterentwickeln.

Da ist der Mut der Richter aus Speyer ausdrücklich zu begrüßen. Es ist immer leichter, auf eigene Überlegungen zu verzichten, als sich mit höchstrichterlicher Rechtsprechung ausführlich auseinanderzusetzen, eine alternative rechtliche Meinung zu bilden und diese dann auch ausführlich und nachvollziehbar zu begründen.

Das Sozialgericht hat in diesem Fall die Berufung zugelassen. Wir werden sicherlich dazu in absehbarer Zeit auf ein Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz und möglicherweise anschließend auch des Bundessozialgerichts stoßen. Bleibt zu wünschen, dass es dem mutigen Gericht gelingt, die von ihm angedachte Auslegung des Gesetzes bis ganz nach oben durchzusetzen.

Rechtliche Grundlagen

§ 49 SGB V ,§ 27 SGB X

§ 49 Ruhen des Krankengeldes
(1) Der Anspruch auf Krankengeld ruht,

1.
soweit und solange Versicherte beitragspflichtiges Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erhalten; dies gilt nicht für einmalig gezahltes Arbeitsentgelt,
2.
solange Versicherte Elternzeit nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz in Anspruch nehmen; dies gilt nicht, wenn die Arbeitsunfähigkeit vor Beginn der Elternzeit eingetreten ist oder das Krankengeld aus dem Arbeitsentgelt zu berechnen ist, das aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung während der Elternzeit erzielt worden ist,
3.
soweit und solange Versicherte Versorgungskrankengeld, Übergangsgeld, Unterhaltsgeld oder Kurzarbeitergeld beziehen,
3a.
solange Versicherte Mutterschaftsgeld oder Arbeitslosengeld beziehen oder der Anspruch wegen einer Sperrzeit nach dem Dritten Buch ruht,
4.
soweit und solange Versicherte Entgeltersatzleistungen, die ihrer Art nach den in Nummer 3 genannten Leistungen vergleichbar sind, von einem Träger der Sozialversicherung oder einer staatlichen Stelle im Ausland erhalten,
5.
solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet wird; dies gilt nicht, wenn die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit erfolgt,
6.
soweit und solange für Zeiten einer Freistellung von der Arbeitsleistung (§ 7 Abs. 1a des Vierten Buches) eine Arbeitsleistung nicht geschuldet wird,
7.
während der ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit für Versicherte, die eine Wahlerklärung nach § 44 Absatz 2 Satz 1 Nummer 3 abgegeben haben,
8.
solange bis die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit nach § 46 Satz 3 ärztlich festgestellt wurde.

(2) (weggefallen)
(3) Auf Grund gesetzlicher Bestimmungen gesenkte Entgelt- oder Entgeltersatzleistungen dürfen bei der Anwendung des Absatzes 1 nicht aufgestockt werden.
(4) (weggefallen)

§ 27 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
(1) War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das Verschulden eines Vertreters ist dem Vertretenen zuzurechnen.
(2) Der Antrag ist innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrages sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Handlung nachzuholen. Ist dies geschehen, kann Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden.
(3) Nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden, außer wenn dies vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war.
(4) Über den Antrag auf Wiedereinsetzung entscheidet die Behörde, die über die versäumte Handlung zu befinden hat.
(5) Die Wiedereinsetzung ist unzulässig, wenn sich aus einer Rechtsvorschrift ergibt, dass sie ausgeschlossen ist.