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Hans-Böckler-Forum 2015 - Arbeitsschutz und Diskriminierungsschutz – menschenwürdige Erwerbsteilhabe (Forum 1)

Das Böckler-Forum beschäftigte sich mit der Frage, wie eine menschenwürdige Erwerbsteilnahme chronisch kranker oder (schwer-)behinderter Menschen rechtlich in Zukunft geschützt und unterstützt werden kann.

Im ersten Teil stand der Arbeitsschutz im Vordergrund. Die Vorträge befassten sich mit den rechtlichen Anforderungen eines menschengerechten Arbeitsschutzes, fähigkeitsgerechter Beschäftigung besonders schutzbedürftigen Beschäftigten und der kollektiven Durchsetzung.

Psychische Erkrankungen als aktuelle und drängende Herausforderung

Der Schwerpunkt lag dabei zunächst bei psychischen Erkrankungen als eine der aktuellen und drängenden Herausforderungen im Arbeitsleben. So lag die Anzahl der AU-Tage wegen psychischer Erkrankungen 2011 bei ca. 60 Mio., die Fälle von Erwerbsminderungsrenten aufgrund psychischer Erkrankungen bei 73.000. 

In seinem Eingangsreferat hob Prof. Dr. Andreas Brücker die besondere Verantwortung auch der Betriebsräte für den Bereich der psychischen Belastungen im Arbeitsverhältnis hervor. Die Handlungsmöglichkeiten der betrieblichen Interessenvertretung begännen bei der Erstellung einer Gefährdungsbeurteilung für konkrete Arbeitsplätze. 

Psychische Belastungen durch unzumutbare und unzulässige Arbeitszeiten 

Vor dem Hintergrund einer weiter voranschreitenden Entgrenzung der Arbeit bzw. der Arbeitszeit in vielen Unternehmen wies Prof. Brücker auf die Organisationspflicht des Arbeitgebers hin, die Arbeitszeiten seiner Mitarbeiter zu dokumentieren, um die Einhaltung gesetzlicher und tariflicher Vorgaben überprüfen zu können. Dem stehe das Recht des Betriebsrates gegenüber, im Rahmen seiner Überwachungsaufgaben die Vorlage der Arbeitszeitaufzeichnungen vom Arbeitgeber zu verlangen (zum Auskunftsanspruch bei Vertrauensarbeitszeit: BAG, Beschluss v. 6.5.2003, AZ 1 ABR 13/02). Bereits auf dieser Ebene könnten in vielen Fällen psychische Belastungen, die auf unzumutbaren und unzulässigen Arbeitszeiten beruhen, verhindert oder zumindest begrenzt werden.

Weiteres Instrument des Betriebsrates zur Unterstützung der betroffenen Arbeitnehmer*innen sei das Beschwerderecht nach § 85 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), das ggf. auch zur Einsetzung einer Einigungsstelle führen kann. Individualrechtlich hätten auch die Arbeitnehmer*innen selbst ein entsprechendes Beschwerderecht bei Problemen mit Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz aus § 17 Arbeitsschutzgesetz.

Recht auf leidensgerechte Anpassung der Arbeitsbedingungen

Aus anwaltlicher Sicht wies Herr Dr. Ulrich Faber auf weitere individualrechtliche Optionen hin: So ergäben sich insbesondere aus § 81 des neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX) die Rechte schwerbehinderter Arbeitnehmer*innen auf leidensgerechte Anpassung der Arbeitsbedingungen und die Förderung der individuellen Fähigkeiten. Das betreffe den Arbeitsplatz, die Arbeitsorganisation und die Arbeitszeit. Die Grenze des Anspruchs bilde die Unzumutbarkeit oder unverhältnismäßige Aufwendungen für den Arbeitgeber. Hierzu habe aber bereits die Antidiskriminierungs-Richtlinie der EU im Jahr 2000 vorgegeben, dass entsprechende Aufwendungen dann nicht unverhältnismäßig sind, wenn hierfür staatliche Kompensationsleistungen erbracht werden können.

Als Fazit des Forums lässt sich festhalten, dass  psychische Belastungen im Erwerbsleben weiterhin ein hohes Gesundheitsrisiko darstellen und nicht nur wegen der immensen Ausfallzeiten ernst zu nehmen sind. Auf betrieblicher Ebene bestehen aber durchaus Möglichkeiten, bereits präventiv tätig zu werden, sowohl für die Betroffenen als auch die Betriebsräte, vor allem aber natürlich die Arbeitgeber.

Im zweiten Teil des ersten Forums stand das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, im folgenden UN-BRK) im Fokus der Beiträge und Diskussion. 

Zunehmende Relevanz von Mehrfachdiskriminierungen – besondere Betroffenheit von Frauen

Prof. Dr. Dagmar Schieck, University Belfast, referierte über die Bedeutung der UN-BRK für das mehrdimensionale EU-Antidiskriminierungsrecht. Sie thematisierte ausgehend von Art. 5 der UN-BRK den Begriff der Behinderung und der Intersektionalität (Überschneidung von verschiedenen Diskriminierungsformen in einer Person). 

Als Beispiele nannte sie zwei Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) mit den Aktenzeichen C-335/11 und C-363/12. In der ersten Sache waren zwei Frauen entlassen worden anstatt dass Vorkehrungen getroffen wurden, so dass sie trotz ihrer Beeinträchtigungen weiter tätig sein konnten. In der zweiten Sache hatte eine Frau ohne Gebärmutter ihren Anspruch auf Mutterschutz geltend gemacht. Der EuGH sah hier jeweils eine Behinderung. 

Den Fortschritt in diesen Entscheidungen sah Frau Dr. Schieck in der Anerkennung, dass Krankheit zu Behinderung führen kann. Der EuGH habe dazu ausgeführt: „Es ist daher festzustellen, dass eine heilbare oder unheilbare Krankheit unter den Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 fallen kann, wenn sie eine Einschränkung mit sich bringt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist.“

Nach dem soziales Modell folge die Behinderung der Beeinträchtigung. Die UN-BRK modifiziere den Behindertenbegriff und dem folge der EuGH.

Frau Dr. Schieck wies darauf hin, dass die Betroffenen in den entschiedenen Fällen Frauen sind. Eine Diskriminierung wegen des Geschlechts sei – ihrer Meinung nach zu Unrecht – von den Prozessvertretern der Klägerinnen nicht geltend gemacht worden, sondern nur eine Diskriminierung wegen einer Behinderung. 

Die zunehmende Relevanz multipler Diskriminierungen müsse anerkannt werden, zudem die dabei bestehende besondere Betroffenheit von Frauen. Das müsse in den Behinderungsbegriff mit einfließen. Ihr Fazit: Die intersektionelle Diskriminierung (Mehrfachdiskriminierung) sei vom EU-Recht erfasst, die EU tue aber nicht genug dafür. 

UN-BRK ist Bestandsteil des deutschen Rechts – Rechtsprechung ist im Fluss

Dr. Regine Winter, Richterin am Bundesarbeitsgericht (BAG), referierte über den Diskriminierungsschutz behinderter Menschen und den Einfluss der UN-BRK auf die arbeitsrechtliche Rechtsprechung. Ausgangspunkt sei Art. 27 BRK (das Recht behin¬derter Men¬schen auf Arbeit auf der Grund¬lage der Gle¬ich¬berech¬ti¬gung mit anderen), der den Rahmen für „angemessene Vorkehrungen“ für Arbeitgeber bilde.

Derzeit beim BAG anhängig sei eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg (1 Sa 23/13) zu einem nicht durchgeführten Betrieblichen Eingliederungsmanagement nach § 84 SGB IX. Die Unterlassung des Präventionsverfahrens habe nicht nur kündigungsschutzrechtlich, sondern auch diskriminierungsrechtlich keine Rechtsfolgen, weshalb ein Entschädigungsanspruch abgelehnt wurde, so das LAG. Ob das BAG dies auch so sieht, verriet Frau Dr. Winter natürlich nicht.

Rechtskräftig sei eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg (26 Sa 427/14) zu den angemessenen Vorkehrungen vor Ausspruch einer behinderungsbedingten Kündigung.

Frau Dr. Winter wies zum Entschädigungsanspruch wegen Benachteiligung aufgrund einer Schwerbehinderung auf zwei Entscheidungen des BAG aus dem Jahr 2014 hin (8 AZR 547/13, 8 AZR 662/13).

§ 81 SGB IX regele die Pflichten des Arbeitgebers und die Rechte schwerbehinderter Menschen. Als schwerbehindert gilt ein Mensch in Deutschland allerdings erst ab einem anerkannten Grad der Behinderung von 50. Jedoch ergibt sich nach Frau Dr. Winter unter Berücksichtigung der UN-BRK, der Richtlinie 2000/78  (Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie) und dem AGG (Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz), dass es keine Beschränkung auf Schwerbehinderung gibt. 

Besonders hob sie zum Schluss noch die Entscheidung des BAG hervor, in der eine symptomlose HIV-Infektion als Behinderung anerkannt und eine Kündigung deshalb als diskriminierend erachtet wurde (6 AZR 190/12). Daraus werde deutlich, dass die UN-BRK Bestandteil des deutschen Rechts ist. Insgesamt sieht Frau Dr. Winter die Rechtsprechung im Fluss; national und auf der Ebene des EuGH entwickele sich etwas, der Zustand jetzt sei nicht statisch.

Forderung nach Engagement als Beitrag zur Gesellschaft – soziale Rechte erstreiten

Die UN-BRK in der anwaltlichen Praxis stellte Roland Rosenow, wissenschaftlicher Mitarbeiter einer Kanzlei aus Freiburg, dar. Dabei könne die UN-BRK im nationalen Recht mittelbarer Prüfungsmaßstab sein. Als mögliche Anwendungsfelder nannte Herr Rosenow den Behindertenbegriff, eine Auslegungshilfe für Teilhabeleistungen sowie die mögliche Kollision einer Behinderung mit sozialrechtlichen Obliegenheiten. 

Soziale Rechte, die nicht nur Freunde hätten, müssten vor Gericht erstritten werden. Herr Rosenow forderte deshalb Engagement als Beitrag zur Gesellschaft.