Bei der Zuordnung zu einer Qualifikationsgruppe kann die Höhe des Arbeitslosengeldes unfair ausfallen. Copyright by Adobe Stock/ H_Ko
Bei der Zuordnung zu einer Qualifikationsgruppe kann die Höhe des Arbeitslosengeldes unfair ausfallen. Copyright by Adobe Stock/ H_Ko

Neumann ist gebeutelt. Erst ist er aufgrund eines Unfalls sechs Monate krank, dann geht sein Arbeitgeber in die Insolvenz. Das nimmt ihn so mit, dass er die nächsten eineinhalb Jahre arbeitsunfähig ist. 18 Monate bekommt er Krankengeld, dann beantragt er Arbeitslosengeld.
Er hat immer gut verdient, so um die 4.000 € brutto. Und jetzt das: Die Agentur für Arbeit bewilligt nur 1.034 € pro Monat.
 

Arbeitslosengeld deutlich geringer als erwartet

Arbeitslosengeld wird in mehreren Schritten berechnet. Von dem sogenannten pauschalierten Nettoentgelt erhält der Kinderlose dann 60%, wer unterhaltspflichtig für mindestens ein Kind ist, bekommt 67%.
Daher dachte Neumann, bei ca. 2.500 € netto müssten dann bei 60% ein Arbeitslosengeld von 1.500 € rauskommen. Tatsächlich bekommt er aber nur die 1.034 €. Wie kann das sein?
 

Wann wird fiktiv berechnet?

Um das Arbeitslosengeld zu berechnen, wird grundsätzlich der Verdienst aus einem Jahr ermittelt, bevor Arbeitslosigkeit eintrat. Bezog der Arbeitslose in diesem Bemessungsrahmen nicht 150 Tage - das sind 5 Monate - Arbeitsentgelt, dann wird noch ein Jahr dazu genommen. Wenn dann 150 Tage zusammenkommen, wird nach dem Durchschnittseinkommen pro Kalendertag für die das Einkommen erzielt wurde, also „normal“ berechnet.
Somit wird in dem Fall, in dem jemand nach Aussteuerung durch die Krankenkasse (nach 18 Monaten) arbeitslos wird und zuvor gearbeitet hat, noch normal berechnet. Denn im zweijährigen Bemessungszeitraum wurde ja sechs Monate, also 180 Kalendertage Arbeitsverdienst erzielt.
 
Neumann kommt nicht auf 150 Tage, auch nicht in zwei Jahren. Bei ihm wird ein fiktives Arbeitsentgelt nach § 152 SGB III zu Grunde gelegt.
 

Wie erfolgt die fiktive Berechnung?

Der Gesetzgeber hat eine Unterteilung in 4 Qualifikationsgruppen vorgenommen:  Hochschulabschluss, Fachschulabschluss oder Meister, abgeschlossene Ausbildung im Ausbildungsberuf und keine (abgeschlossene) Ausbildung.
 
Neumann ist von der Agentur der Gruppe zuzuordnen, auf die sich die Vermittlungsbemühungen erstrecken. Das Gesetz nennt nicht feste Beträge, sondern Prozentsätze der Bezugsgröße (1/300 in Stufe 1, 1/360 in Stufe 2, 1/450 in Stufe 3 und 1/600 in Stufe 4.
Und was heißt das jetzt in Zahlen? Bezugsgrößen werden meist jedes Jahr angepasst. Für West beträgt sie im Kalenderjahr 2020 38.220 €, für Ost 36.120 €.
 
Neumann, der in Westdeutschland lebt, wurde als Facharbeiter in der Gruppe 3 eingestuft (Berechnung 38.220 €: 450 = 84,93 € tägliches Bemessungsentgelt).
Der Gesetzgeber unterstellt hier also, dass ein Facharbeiter ca. 2.550 € brutto monatlich verdient.
Nach den pauschalierten Abzügen für Steuer  - bei Neumann Steuerklasse IV - und Sozialversicherung bleibt ein Leistungssatz von 34,48 € täglich, also berechnet mit 30 Kalendertagen 1.034 € monatlich.
 

Widerspruch gegen die Einstufung

Neumann hatte vor 20 Jahren eine Meisterprüfung abgelegt, aber aus den unterschiedlichsten Gründen nie in diesem Beruf gearbeitet. Die Sozialgerichte lassen aber im Streitfall eine so alte Qualifikation außen vor. Es gibt hierüber mehrere Entscheidungen von Landesozialgerichten (LSG).
 
So sagt z.B. das nordrheinwestfälische LSG (Az. L9 AL 141/18): Verfügt ein Arbeitsloser über eine abgeschlossene Ausbildung in einem Ausbildungsberuf, so kommt dieser (höchste) Berufsabschluss für die Zuordnung zu einer Qualifikationsgruppe als Grundlage der Ermittlung des fiktiven Arbeitsentgelts nach § 152 SGB III nicht mehr in Betracht, wenn er in diesem Beruf vor mehr als 20 Jahren zuletzt tätig gewesen ist und im Übrigen mittlerweile eine Weiterbildungsmaßnahme in einem anderen Beruf erfolgreich absolviert hat.
 

Ist die fiktive Berechnung ungerecht?

Neumanns Fall kommt einem nicht gerecht vor. Er hat über Jahre hohe Beiträge für die Arbeitslosenversicherung gezahlt und dann, wenn er sie braucht, wird von einem geringeren Wert ausgegangen.
Das ist nur die eine Seite der Medaille.  Auch wer Vollzeit gearbeitet hat und sich nur Teilzeit der Vermittlung zur Verfügung stellt, erhält bei der Berechnung nur das, zu was er vermittelt werden könnte.
Also auf die Vermittlung kommt es an. Und nach der langen Zeit könnte Neumann nicht mehr in seinem alten Meisterberuf vermittelt werden.
 

Abwandlung:

Im Arbeitsrechtsstreit mit seinem Arbeitgeber war eine Abfindungszahlung von drei Monatsgehältern in Verhandlung. Der Arbeitgeber bot auch an, stattdessen könnte Neumann eine bezahlte Freistellung von drei Monaten wählen. Das hat er getan, denn in seinem Bemessungszeitrahmen fehlten ihm noch 60 Tage, um die 150 Tage zu erreichen.
 
Diese Zeit einer Freistellung wollte die Agentur für Arbeit in der Vergangenheit nicht anerkennen. Das sahen auch die Gerichte so. Das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 30.8.2018  - Az. B11 AL 15 /17) hat jedoch seine alte Rechtsprechung dazu aufgegeben. Seitdem gilt: Das während einer unwiderruflichen Freistellung gezahlte und abgerechnete Arbeitsentgelt ist in die Bemessung des Arbeitslosengeldes einzubeziehen. Somit erreicht Neumann, dass sein Durchschnittsverdienst zu Grunde gelegt wird.
 

Die Gerichte sehen keine Benachteiligung von Frauen

Oft trifft es die Frauen, die nach Erziehungszeiten sich der Agentur wieder zur Verfügung stellen und dann mangels genügender Arbeitstage im Bemessungszeitraum fiktiv eingestuft werden.
 
Zeiten des Bezugs von Krankengeld und Mutterschaftsgeld sind nicht zu berücksichtigen, weil es sich dabei nicht um Arbeitsentgelt im Sinne des Gesetzes (§ 151 SGB 3) handelt. Die gesetzliche Regelung wird von verschiedenen Landessozialgerichten (LSG) für verfassungsgemäß gehalten (z.B. Hessisches LSG, Az. L 7 AL 73/18). Und auch das Schleswig-Holsteinisches LSG urteilte (Az. L 3 AL 10/17), dass eine Mutter wegen längerer freiwilliger Unterbrechung ihres Berufslebens wegen Kindererziehung fiktiv einzustufen sei, und dies weder gegen Verfassungs- noch Gemeinschaftsrecht verstoße.
 
 
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Freistellung schadet bei Arbeitslosengeld nicht

Das sagen wir dazu:

Der Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung ist immens wichtig. Hätte Neumann sich eher arbeitslos gemeldet, wäre der Bemessungszeitraum anders festgelegt und die fiktive Einstufung zu vermeiden gewesen.

Manchmal ist aber auch die spätere Meldung richtig, z.B., wenn sich dann die Bezugsdauer verlängert.

Vieles im Leben kann man nicht steuern, aber sich gut beraten lassen, wenn solche Entscheidungen anstehen, ist immer gut. Gewerkschaftsmitglieder erhalten solchen Rat kostenlos.

Rechtliche Grundlagen

§ 152 SGB III Fiktive Bemessung
(1) Kann ein Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt innerhalb des auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmens nicht festgestellt werden, ist als Bemessungsentgelt ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen. In den Fällen des § 142 Absatz 2 gilt Satz 1 mit der Maßgabe, dass ein Bemessungszeitraum von mindestens 90 Tagen nicht festgestellt werden kann.
(2) Für die Festsetzung des fiktiven Arbeitsentgelts ist die oder der Arbeitslose der Qualifikationsgruppe zuzuordnen, die der beruflichen Qualifikation entspricht, die für die Beschäftigung erforderlich ist, auf die die Agentur für Arbeit die Vermittlungsbemühungen für die Arbeitslose oder den Arbeitslosen in erster Linie zu erstrecken hat. Dabei ist zugrunde zu legen für Beschäftigungen, die
1. eine Hochschul- oder Fachhochschulausbildung erfordern (Qualifikationsgruppe 1), ein Arbeitsentgelt in Höhe von einem Dreihundertstel der Bezugsgröße,
2.einen Fachschulabschluss, den Nachweis über eine abgeschlossene Qualifikation als Meisterin oder Meister oder einen Abschluss in einer vergleichbaren Einrichtung erfordern (Qualifikationsgruppe 2), ein Arbeitsentgelt in Höhe von einem Dreihundertsechzigstel der Bezugsgröße,
3. eine abgeschlossene Ausbildung in einem Ausbildungsberuf erfordern (Qualifikationsgruppe 3), ein Arbeitsentgelt in Höhe von einem Vierhundertfünfzigstel der Bezugsgröße,
4. keine Ausbildung erfordern (Qualifikationsgruppe 4), ein Arbeitsentgelt in Höhe von einem Sechshundertstel der Bezugsgröße.

§ 151 SGB III Bemessungsentgelt
(1) Bemessungsentgelt ist das durchschnittlich auf den Tag entfallende beitragspflichtige Arbeitsentgelt, das die oder der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat. Arbeitsentgelte, auf die die oder der Arbeitslose beim Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis Anspruch hatte, gelten als erzielt, wenn sie zugeflossen oder nur wegen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht zugeflossen sind.
(2) (…)
(3) Als Arbeitsentgelt ist zugrunde zu legen
1. für Zeiten, in denen Arbeitslose Kurzarbeitergeld oder eine vertraglich vereinbarte Leistung zur Vermeidung der Inanspruchnahme von Saison-Kurzarbeitergeld bezogen haben, das Arbeitsentgelt, das Arbeitslose ohne den Arbeitsausfall und ohne Mehrarbeit erzielt hätten, (…) (4) Haben Arbeitslose innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs Arbeitslosengeld bezogen, ist Bemessungsentgelt mindestens das Entgelt, nach dem das Arbeitslosengeld zuletzt bemessen worden ist. (…)
(5) (…) Bestimmt sich das Bemessungsentgelt nach § 152, ist insoweit die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit maßgebend, die bei Entstehung des Anspruchs für Angestellte im öffentlichen Dienst des Bundes gilt.