Nachdem Kurzarbeit „NULL“ angeordnet war, ging es so lebhaft an der Kasse der Klägerin nicht mehr zu. © Adobe Stock: Julien Rousset
Nachdem Kurzarbeit „NULL“ angeordnet war, ging es so lebhaft an der Kasse der Klägerin nicht mehr zu. © Adobe Stock: Julien Rousset

Die 40-jährige Kassenmitarbeiterin war bei der Beklagten bereits seit über 20 Jahren beschäftigt. Sie hatte mit dem Arbeitgeber eine regelmäßige monatliche Arbeitszeit von 86 Stunden vereinbart. Sowohl sie als auch ihr Arbeitgeber waren tarifgebunden.

 

Ein Haustarifvertrag regelt Zuschläge für Mehrarbeit

 

Ein im Unternehmen geltender Haustarifvertrag bestimmt, dass Mehrarbeit ausschließlich die über die monatliche Soll-Arbeitszeit von 173 Stunden hinaus geleistete Arbeit ist. Dafür zahlt die Beklagte Zuschläge. Die Klägerin arbeitete monatlich regelmäßig mehr als 86 Stunden und erhielt dafür dementsprechende Zuschläge.

 

Es gab im Unternehmen nur noch eine weitere Mitarbeiterin mit gleicher Vertragsgestaltung. Alle anderen Kassenmitarbeiter*innen waren später eingestellt worden. Sie erhielten bei gleicher arbeitsvertraglich vereinbarter Arbeitszeit von 86 Stunden keine Zuschläge für darüber hinaus geleistete Arbeitsstunden.

 

Die Kurzarbeit führte zu unterschiedlichen Berechnungen

 

Im März 2020 führte die Beklagte Kurzarbeit „NULL“ ein. Bei der Klägerin berechnete die Beklagte das Kurzarbeitergeld auf der Basis von 86 monatlichen Arbeitsstunden. Bei den später eingestellten Kassenmitarbeiter*innen legte sie demgegenüber den tatsächlichen Durchschnittsverdienst der letzten drei Monate zugrunde.

 

Die Klägerin wollte mit der beim Arbeitsgericht Dortmund eingereichten Klage die Berechnung ihres Kurzarbeitergeldes ebenfalls nach den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden erreichen. Die Beklagte hielt dem „Rosinenpickerei“ entgegen. Die Klägerin habe bereits Zuschläge für die Mehrarbeitsstunden erhalten, ihre Kolleg*innen demgegenüber nicht.

 

Das Arbeitsgericht Dortmund wies die Klage ab

 

Die Jurist*innen des DGB Rechtsschutzbüros Hamm legten hiergegen erfolgreich Berufung ein. Das Landesarbeitsgericht Hamm hob das erstinstanzliche Urteil auf und sprach der Klägerin im Rahmen eines Schadenersatzanspruchs einen Gesamtbetrag von nahezu 6.500 € zu.

 

Im Berufungsverfahren schwierig zu beantworten war dabei zunächst die Frage, ob die von der Klägerin erstinstanzlich geltend gemachten Zahlungsansprüche im Berufungsverfahren im Wege des Schadenersatzes weiterverfolgt werden konnten. Das Landesarbeitsgericht bejahte dies.

 

Die Beklagte lehnte die Geltendmachung eines Schadenersatzanspruches ab

 

Zwar habe die Beklagte dem ausdrücklich widersprochen, weil das bisherige Vorbringen der Klägerin ihrer Auffassung nach so zu verstehen war, dass sie die streitgegenständlichen Zahlungsansprüche bis zu der Berufungsverhandlung ausschließlich nur unter dem Gesichtspunkt einer vertraglichen Vergütungspflicht der Beklagten geltend gemacht habe. Der im Berufungsverfahren geltend gemachte Schadenersatz führe zu einer Klageänderung.

 

Der Anspruch auf Schadenersatz wegen einer Verletzung von Vertragspflichten bilde einen anderen Streitgegenstand als der ursprünglich eingeklagte Erfüllungsanspruch aus dem Arbeitsvertrag. Den Ansprüchen liege ein unterschiedlicher Sachverhalt zugrunde.

 

Das Landesarbeitsgericht bestätigt zulässige Klageänderung

 

Eine Klageänderung ist in der Berufungsinstanz nur noch mit Einwilligung der Beklagten zulässig, es sei denn, das Gericht hält sie für sachdienlich und die Klageänderung wird auf Tatsachen gestützt, die das Berufungsgericht in seiner Entscheidung ohnehin zugrunde zu legen hat.

 

Von Letzterem ging das Gericht im Fall der Klägerin aus. Die Klägerin habe stets geltend gemacht, dass die Beklagte bei der Ermittlung der Höhe des ihr zustehenden Zuschusses zum Kurzarbeitergeld fälschlicherweise den im Arbeitsvertrag schriftlich vereinbarten Umfang der Arbeitszeit zugrunde gelegt habe, obwohl sie tatsächlich erheblich länger eingesetzt gewesen sei. Die Klägerin habe damit die von ihr geltend gemachten Differenzansprüche auf ein pflichtwidriges Vorgehen der Beklagten bei der Ermittlung ihrer regelmäßigen Arbeitszeit gestützt.

 

Das Landesarbeitsgericht muss Pflichtverletzung berücksichtigen

 

Der Klägerin sei es damit von Beginn an um das Vorliegen eines objektiv pflichtwidrigen Verhaltens der Beklagten gegangen. Dies sei ein Umstand, den das Berufungsgericht ohnehin bei seiner Entscheidung zugrunde zu legen habe. Bedenken gegen die Klageänderung bestünden demzufolge nicht.

 

Den von der Klägerin ursprünglich gegenüber der Beklagten geltend gemachten Zahlungsanspruch unter dem Gesichtspunkt der Erfüllung der arbeitsvertraglichen Verpflichtung bestätigte das Gericht nicht. Die Beklagte habe entsprechend einer im Unternehmen geltenden Betriebsvereinbarung gezahlt, sodass der arbeitsvertragliche Anspruch der Klägerin erfüllt und damit erloschen sei.

 

Das gelte auch bezüglich des Einwands der Klägerin, bei der Ermittlung der Höhe des ihr zustehenden Kurzarbeitergeldes sei eine fehlerhafte Zahl geleisteter Arbeitsstunden zugrunde gelegt worden. Maßgeblich für die konkrete Höhe des Kurzarbeitergeldes sei der Bescheid der Bundesagentur für Arbeit an die Beklagte und nicht eine fehlerhafte Entscheidung der Beklagten hinsichtlich der Höhe deren Zahlungen an die Klägerin.

 

Die Arbeitsagentur bewilligt Kurzarbeitergelt gegenüber dem Arbeitgeber

 

Kurzarbeitergeld werde von der Agentur für Arbeit berechnet. Inhaber des Anspruchs seien jedoch die Arbeitnehmer*innen, in deren Personen die persönlichen Voraussetzungen erfüllt sein müssten. Statt der Arbeitnehmer*innen sei aber der Arbeitgeber Empfänger des Bewilligungsbescheides. Er habe auch im Verfahren die notwendigen Nachweise zu erbringen. Arbeitnehmer*innen könnten den Bescheid der Agentur für Arbeit nicht selbst anfechten.

 

Dementsprechend könne die Klägerin die geltend gemachten Zahlungsansprüche nicht als Vergütungsansprüche geltend machen; denn die Beklagte habe ausgehend von dem zwischenzeitlich rechtskräftigen Bescheid der Bundesagentur für Arbeit der Klägerin das von der Arbeitsagentur bewilligte Kurzarbeitergeld gezahlt. Darauf basierende Zahlungsansprüche der Klägerin seien damit erloschen.

 

Die Beklagte ist zur Zahlung von Schadenersatz verpflichtet

 

Das Landesarbeitsgericht bejahte allerdings eine Pflichtverletzung der Beklagten mit der Folge, dass diese gegenüber der Klägerin zum Ersatz des daraus entstandenen Schadens verpflichtet ist.

 

Der Arbeitgeber trete im Zusammenhang mit den Ansprüchen auf Gewährung von Kurzarbeitergeld als sogenannter Prozessstandschafter im Verfahren auf. Anspruchsberechtigte Arbeitnehmer*innen hätten selbst keine Rechte auf Verfahrensbeteiligung und Einlegung von Rechtsbehelfen. Daher treffe den Arbeitgeber im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren über die Bewilligung von Kurzarbeitergeld eine Rücksichtnahmepflicht, die darin bestehe, die Interessen der von der Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmer*innen ordnungsgemäß wahrzunehmen.

 

Geschehe das schuldhaft nicht, sei der Arbeitgeber zum Schadenersatz verpflichtet.

 

Arbeitgeber muss ordnungsgemäße Angaben zur Berechnung machen

 

Die Beklagte sei gegenüber der Bundesagentur für Arbeit dazu verpflichtet gewesen, nicht nur die im Arbeitsvertrag schriftlich fixierte Arbeitszeit von 86 Stunden pro Monat, sondern die von der Klägerin in der Vergangenheit tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden anzugeben. Das habe sie pflichtwidrig unterlassen.

 

Der Beklagten sei zwar zuzugestehen, dass sich das Kurzarbeitergeld nach dem Gesetz auf einen Prozentsatz der Nettoentgeltdifferenz bemesse, wobei der Berechnung das Soll-Entgelt zugrunde gelegt werden müsse.

 

Nach der gesetzlichen Bestimmung sei das Soll-Entgelt das Bruttoarbeitsentgelt, das Betroffene erzielen, vermindert um das Entgelt für Mehrarbeit. Lasse sich das Soll-Entgelt nicht hinreichend bestimmt feststellen, sei das Entgelt maßgebend, dass Arbeitnehmer*innen in den letzten drei abgerechneten Kalendermonaten vor Beginn des Arbeitsausfalls im Betrieb durchschnittlich erzielt hätten, vermindert um das Entgelt für Mehrarbeit.

 

Regelmäßige Arbeitszeit ist keine Mehrarbeit

 

Die Beklagte übersehe insoweit, dass die von der Klägerin tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden keine Mehrarbeitsstunden im Sinne von § 106 SGB III darstellten, welche bei der Ermittlung der Höhe des Kurzarbeitergeldes nicht zu berücksichtigen seien.

 

Kurzarbeit sei eine Lohnersatzleistung, die dazu diene, den Arbeitsausfall bei Kurzarbeit zu kompensieren und das Lohneinkommen zu sichern. Das bringe das Gesetz dadurch zum Ausdruck, dass es Bezug auf das vorherige Arbeitsentgelt und seine Höhe nehme (§ 106 Abs. 1 Satz 5 SGB III).  Daneben solle in bestimmten Fällen Entgelt für Mehrarbeit bei der Ermittlung des Soll-Entgelts berücksichtigen werden (§ 106 Abs. 2 Satz 2 SGB III). Das Gesetz verfolge damit das Ziel, den Entgeltausfall von jenen Lohnbestandteilen freizuhalten, die unsicher seien und daneben Missbrauch zu vermeiden.

 

Die Beklagte handelte schuldhaft

 

Die Beklagte habe schuldhaft unrichtige Angaben gegenüber der Agentur für Arbeit gemacht. Bei der gebotenen sorgfältigen Prüfung der Angaben zum Umfang der Arbeitszeit der Klägerin gegenüber der Arbeitsagentur hätte sie erkennen können, dass ein Abstellen auf die arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitszeiten im Widerspruch zur gesetzlichen Regelung stehe und die Klägerin dadurch Vergütungseinbußen erleiden könne.

 

Daraus folge der Anspruch der Klägerin auf den im Berufungsverfahren geltend gemachten Schadenersatz.

 

Das Landesarbeitsgericht ließ die Revision zum Bundesarbeitsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu. Der Arbeitgeber hat den weiteren Rechtsweg inzwischen auch beschritten.

 

Hier geht es zum Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm.

 

Rechtliche Grundlagen

§ 106 Abs. 1 und 2 SGB III

§ 106 Nettoentgeltdifferenz

(1) Die Nettoentgeltdifferenz entspricht der Differenz zwischen
1. dem pauschalierten Nettoentgelt aus dem Soll-Entgelt und
2. dem pauschalierten Nettoentgelt aus dem Ist-Entgelt.

Soll-Entgelt ist das Bruttoarbeitsentgelt, das die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer ohne den Arbeitsausfall in dem Anspruchszeitraum erzielt hätte, vermindert um Entgelt für Mehrarbeit. Ist-Entgelt ist das Bruttoarbeitsentgelt, das die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer in dem Anspruchszeitraum tatsächlich erzielt hat, zuzüglich aller zustehenden Entgeltanteile. Arbeitsentgelt, das einmalig gezahlt wird, bleibt bei der Berechnung von Soll-Entgelt und Ist-Entgelt außer Betracht. Soll-Entgelt und Ist-Entgelt sind auf den nächsten durch 20 teilbaren Euro-Betrag zu runden. § 153 über die Berechnung des Leistungsentgelts beim Arbeitslosengeld gilt mit Ausnahme der Regelungen über den Zeitpunkt der Zuordnung der Lohnsteuerklassen und den Steuerklassenwechsel für die Berechnung der pauschalierten Nettoentgelte beim Kurzarbeitergeld entsprechend. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, einen Programmablauf zur Berechnung der pauschalierten Nettoentgelte für das Kurzarbeitergeld im Bundesanzeiger bekannt zu machen.

(2) Erzielt die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer aus anderen als wirtschaftlichen Gründen kein Arbeitsentgelt, ist das Ist-Entgelt um den Betrag zu erhöhen, um den das Arbeitsentgelt aus diesen Gründen gemindert ist. Arbeitsentgelt, das unter Anrechnung des Kurzarbeitergeldes gezahlt wird, bleibt bei der Berechnung des Ist-Entgelts außer Betracht. Bei der Berechnung der Nettoentgeltdifferenz nach Absatz 1 bleiben auf Grund von kollektivrechtlichen Beschäftigungssicherungsvereinbarungen durchgeführte vorübergehende Änderungen der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit außer Betracht; die Sätze 1 und 2 sind insoweit nicht anzuwenden.