Geklagt hatte ein Schlosser, dem sein Arbeitgeber für die Zeit vom 12. bis 21.Oktober 2020 acht Tage Erholungsurlaub bewilligt hatte.

Kläger muss Urlaub in häuslicher Quarantäne verbringen

Für die Zeit vom 9. bis zum 21.Oktober 2020 hatte die Stadt Hagen mit Bescheid vom 14. Oktober 2020 die Absonderung des Klägers in häusliche Quarantäne angeordnet.
Begründet wurde dies mit dem Kontakt zu einer mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizierten Person. In der Quarantäne war es dem Kläger untersagt, seine Wohnung ohne ausdrückliche Zustimmung des Gesundheitsamts zu verlassen. Er durfte auch keine haushaltsfremden Personen empfangen. Die Beklagte belastete das Urlaubskonto des Klägers mit den beantragten acht Tagen und zahlte das entsprechende Urlaubsentgelt.

Kläger beantragt Wiedergutschrift der Urlaubstage

Der Kläger verlangte nun die Wiedergutschrift der Urlaubstage auf seinem Urlaubskonto, da es ihm nicht möglich gewesen sei, seinen Urlaub selbstbestimmt zu gestalten.

Die Situation bei einer Quarantäneanordnung sei mit der infolge einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit vergleichbar. Der Arbeitgeber müsse ihm den Urlaub deshalb entsprechend § 9 BUrlG nachgewähren. Danach dürfen ärztlich attestierte Krankheitszeiten während des Urlaubs nicht auf den Jahresurlaub angerechnet werden,.

Beklagte verweigert Gutschrift der Urlaubstage - Kläger erhebt Klage

Da die Beklagte sich nicht bereit erklärte, die Urlaubstage dem Urlaubskonto des Klägers gutzuschreiben, erhob er Klage beim Arbeitsgericht Hagen, die mit Urteil vom 28. Juli 2021 abgewiesen wurde.

Auf die Berufung des Klägers, der durch Juristen des Büro Hagen der DGB Rechtsschutz GmbH vertreten wurde, hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Urlaubskonto des Klägers acht Urlaubstage hinzuzufügen.

Wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache ließ das LAG für die Beklagte die Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) zu, die hiervon Gebrauch machte. Die Vertretung des Klägers vor dem höchsten deutschen Arbeitsgericht erfolgte durch die Revisions-Spezialist*innen des Gewerkschaftlichen Centrum für Revision und europäisches Recht der DGB Rechtsschutz GmbH in Kassel.

BAG setzt Verfahren aus und bittet EuGH um Vorabentscheidung

Auf die Revision der Beklagten hat das BAG das Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Sache zur Vorabentscheidung vorgelegt, um die Frage klären zu lassen, ob aus dem Unionsrecht die Verpflichtung des Arbeitgebers abzuleiten ist, einem Arbeitnehmer bezahlten Erholungsurlaub nach zu gewähren, der zwar während des Urlaubs selbst nicht erkrankt ist, in dieser Zeit aber eine behördlich angeordnete häusliche Quarantäne einzuhalten hatte.

Denn es sei entscheidungserheblich, ob es mit Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Einklang steht, wenn vom Arbeitnehmer beantragter und vom Arbeitgeber bewilligter Jahresurlaub, der sich mit einer nach Urlaubsbewilligung durch die zuständige Behörde angeordneten häuslichen Quarantäne zeitlich überschneidet, nach nationalem Recht nicht nach zu gewähren ist, weil der betroffene Arbeitnehmer selbst nicht krank war.

 

Angelika Kapeller, Juristin im Gewerkschaftlichen Centrum für Revision und Europäisches Recht, führt das Revisionsverfahren vor dem BAG. Sie sieht einem spannenden Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union entgegen:

„Nach der Rechtsprechung des EuGH kommt dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht nur als Grundsatz des Sozialrechts der Union besondere Bedeutung zu, er ist sogar in Art.31 GRC ausdrücklich verankert. Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass Arbeitnehmer:innen ihn auch tatsächlich in Anspruch nehmen können. Wenn das nationale Recht eine Nachgewährung nur für ausdrücklich geregelte Ausnahmefälle wie Arbeitsunfähigkeit oder mutterschutzrechtliches Beschäftigungsverbot zulässt, den Fall der Quarantäne aber nicht regelt, könnte das mit Unionsrecht unvereinbar sein.

Die Welle der negativen Entscheidungen anderer Instanzgerichte ist durch die Vorlage jedenfalls erst einmal gebrochen. Möglicherweise wird der Gesetzgeber veranlasst, das Problem zeitnah durch eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes zu entschärfen.“

Hier geht es zur Pressemeldung des BAG vom 16.08.2022:


Hier das Vorabentscheidungsersuchen des BAG vom 16. August 2022:

 

I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über folgende Frage ersucht:

Sind Art. 7 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahingehend auszulegen, dass sie einer innerstaatlichen Regelung oder Praxis entgegenstehen, der zufolge ein vom Arbeitnehmer beantragter und vom Arbeitgeber bewilligter bezahlter Jahresurlaub, der sich mit einer nach Urlaubsbewilligung durch die zuständige Behörde wegen Ansteckungsverdachts angeordneten häuslichen Quarantäne zeitlich überschneidet, nicht nachzugewähren ist, wobei beim Arbeitnehmer während der Quarantäne keine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit besteht.

II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.

Für Interessierte:

Hier geht es zum Urteil des LAG Hamm vom 27.01.2022 - Az: 5 Sa 1030/21:

 

 

Rechtliche Grundlagen

Auszüge aus RL 2003/88 EG, Charta der Grundrechte der EU und § 9 BUrlG

Art. 7 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung
Art. 7 Jahresurlaub
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.

Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Art. 31
Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
(1) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.
(2) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.

§ 9 BUrlG
Erkrankung während des Urlaubs
Erkrankt ein Arbeitnehmer während des Urlaubs, so werden die durch ärztliches Zeugnis nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfähigkeit auf den Jahresurlaub nicht angerechnet.