Am 19. Februar 2019 AZ: 9 AZR 541/15 hat das Bundesarbeitsgericht bereits im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof zum Verfall tariflich vereinbarten Urlaubes, der über den gesetzlichen Urlaub hinausgeht (sog. Mehrurlaub) entschieden.
Danach können Tarifvertragsparteien Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche frei regeln. Dabei dürfen sie bestimmen, ob der tarifliche Mehrurlaub am Ende des Jahres oder des Übertragungszeitraumes verfällt, ohne dass der Arbeitgeber zuvor seinen Mitwirkungsobliegenheiten entsprochen hat.
Für den Willen, den Mehrurlaub abweichend von den gesetzlichen Bestimmungen verfallen zu lassen, müssen aber deutliche Anhaltspunkte vorliegen. Fehlen solche, ist nach der Rechtsprechung von einem Gleichlauf des gesetzlichen Urlaubsanspruchs und des Anspruchs auf tariflichen Mehrurlaub auszugehen. Der Mehrurlaub verfällt dann erst mit dem gesetzlichen Urlaub.
Das Arbeitsgericht Koblenz hatte genau dies zu entscheiden
Die dortige Klägerin arbeitete 14 Jahre als Bürokauffrau in Teilzeit bei einem Autohaus-Unternehmen. Das Arbeitsverhältnis endete im August 2022, nachdem die Beschäftigte lange Zeit durchgehend erkrankt war.
Im Jahr 2021 konnte sie krankheitsbedingt nur einen Tag Urlaub nehmen. Weil der Arbeitgeber ihr den Resturlaub nicht abgelten wollte und auch das zusätzliche Urlaubsgeld verweigerte, erhob sie mit Unterstützung des DGB Rechtsschutzbüros Siegen Zahlungsklage beim Arbeitsgericht.
Die Beklagte zog sich im Prozess auf die Argumentation zurück, sie habe der Frau 18 Tage des Resturlaubes aus dem Jahr 2021 und 20 Tage aus dem Jahr 2022 abgegolten, weitere von der Klägerin geforderte 20 Tage Urlaub nebst Urlaubsabgeltung verweigerte sie demgegenüber.
Die Anwendung eines Tarifvertrages war im Arbeitsvertrag vereinbart
Auf das Arbeitsverhältnis fanden die Tarifverträge des KfZ-Gewerbes Rheinland e.V. Anwendung. So stand es im Arbeitsvertrag. Dort hieß es weiter, der Klägerin stünden 29 Tage bezahlten Urlaubes zu. Urlaubstage des laufenden Jahres müssten bis spätestens 31. März des Folgejahres genommen sein. Nach dem 31.März erlösche der Urlaubsanspruch des Vorjahres.
Der Tarifvertrag bestimmt daneben, dass der Urlaub grundsätzlich im Urlaubsjahr zusammenhängend zu erteilen und in Anspruch zu nehmen ist, sofern nicht berechtigte Belange des Betriebes dem entgegenstehen. Der Urlaubsanspruch - auch ein Teilanspruch - erlöscht mit Ablauf des Kalenderjahres.
Jede:r Arbeitnehmer:in erhält zudem neben dem Urlaubsentgelt ein zusätzliches Urlaubsgeld in Höhe von 50 Prozent des Urlaubsgeldes. Das zusätzliche Urlaubsgeld ist vor Antritt des Urlaubes mit dem Urlaubsentgelt zu zahlen.
Die Regeln im Arbeitsvertrag sollen vom Gesetz losgelöst sein
Die Beklagte meinte, der Arbeitsvertrag enthalte eigenständige, von der gesetzlichen Regelung zur Befristung des Mindesturlaubs losgelöste Bestimmungen zur Befristung des tariflichen Mehrurlaubes (sog. „eigenständiges Fristenregime“). Das betreffe den tariflichen Urlaubsanspruch, soweit er über den gesetzlichen Anspruch auf Mindesturlaub von 20 Tagen im Jahr hinausgehe.
Dies seien bei der Klägerin jeweils weitere neun Tage Urlaub im Kalenderjahr. Deshalb habe sie den über den gesetzlichen Urlaubsanspruch der Klägerin hinausgehenden Mehrurlaub auch nicht anrechnen und auszahlen müssen.
Urlaubsgeld wiederum sei der Klägerin nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht geschuldet, weil das Urlaubsgeld nur als Sonderzahlung und zusätzliches Arbeitsentgelt zu verstehen gewesen sei; hinzu komme die Pflicht, Urlaubsgeld nur für tatsächlich angetretene Urlaubstage zu zahlen.
Die Klägerin sah das anders
Unter Berücksichtigung des Arbeitsvertrages und der tarifvertraglichen Regeln sei die Beklagte verpflichtet gewesen, der Klägerin insgesamt 58 Tage Urlaub abzugelten und ein Urlaubsgeld in Höhe von 50 Prozent für diese 58 Tage zu zahlen, machten die Jurist:innen vom DGB Rechtsschutz vor dem Arbeitsgericht geltend und gewannen den Prozess.
Der Arbeitsvertrag habe kein eigenständiges, von der gesetzlichen Regelung zur Befristung des Mindesturlaubs gelöstes Fristenregime für den Mehrurlaub angeordnet, der über den Mindesturlaub von 20 Tagen im Kalenderjahr hinausgehe. Dies seien bei der Klägerin weitere neun Tage Urlaub je Kalenderjahr. Deshalb verfalle der über den gesetzlichen Urlaubsanspruch der Klägerin hinausgehende Mehrurlaub auch nicht.
Urlaubsjahr ist grundsätzlich das Kalenderjahr
Wegen § 7 Abs. 3 Bundesurlaubsgesetz (BurlG) müsse der Urlaub grundsätzlich im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden, erläutert das Gericht. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr sei demnach nur statthaft, wenn dringende oder - wie hier - in der Person der Arbeitnehmerin liegende Gründe dies rechtfertigten; im Fall der Übertragung müsse der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden.
Dieser gesetzliche Urlaubsanspruch gehe für einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres nicht unter, wenn Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Urlaubsjahres vorliege. So habe es das Bundesarbeitsgericht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof zu § 7 Abs. 3 BurlG entschieden.
Europäisches Recht gilt für Tarifverträge nicht unmittelbar
Tarifvertragliche und wie hier vertraglich vereinbarte Mehrurlaubsansprüche, die den gesetzlichen Mindesturlaub überstiegen, fielen nicht in den Anwendungsbereich europäischen Rechts, weshalb Arbeitnehmer:innen bei fortdauernder Erkrankung gegebenenfalls den Verfall des vertraglichen oder tariflichen Mehrurlaubs hinnehmen müssten.
Das gilt aber nicht, wenn die Auslegung des Vertrages oder des Tarifvertrages ergebe, dass die Parteien den von ihnen vereinbarten Mehrurlaub an das Schicksal des gesetzlichen Urlaubs gebunden hätten. Für einen Regelungswillen, der zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen vertraglichen oder tariflichen Ansprüchen unterscheide, müssten deutliche Anhaltspunkte bestehen.
Diese seien anzunehmen, wenn sich die Tarif- oder Arbeitsvertragsparteien in weiten Teilen vom gesetzlichen Urlaubsregime gelöst hätten und stattdessen eigene Regeln aufstellten. Hätten die Tarif- oder Arbeitsvertragsparteien den Mehrurlaub einem eigenständigen, vom Bundesurlaubsgesetz abweichenden Fristenregime unterstellt, könnten sie bestimmen, dass Arbeitnehmer:innen das Risiko tragen, wenn der Anspruch auf gewährten Mehrurlaub z. B. wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht erfüllbar sei.
Der Mehrurlaub der Klägerin war an den gesetzlichen Urlaub gebunden
Der Anspruch der Klägerin sei auf Grund dessen bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht verfallen und deshalb abzugelten. Das gelte einerseits für den Urlaub aus dem Jahr 2022, der von der Klägerin Ende August 2022 in vollem Umfang von 29 Tagen noch nicht in Anspruch genommen worden war. Dies gelte aber auch für die Urlaubstage aus dem Jahr 2021, die ebenfalls noch offen geblieben seien.
Der vertraglich vereinbarten Regelung zur Anwendung des Tarifvertrages liege nämlich kein eigenständiges, vom Bundesurlaubsgesetz abweichendes Fristenregime für den Verfall der Mehrurlaubsansprüche zugrunde.
Die Beklagte wolle, dass der Arbeitsvertrag den Verfall des gesetzlichen Mindesturlaubs nur unter den Bedingungen des Bundesurlaubsgesetzes und nach europäischem Recht zulasse. Für den Verfall des vertraglich vereinbarten Mehrurlaubes solle es dagegen auf den Wortlaut der vertraglichen Vereinbarung der Parteien ankommen. Danach solle der Urlaubsanspruch am 31. März des Folgejahres grundsätzlich und uneingeschränkt erlöschen. Das bleibe unklar und unverständlich.
Der Arbeitsvertrag hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand
Die diesbezügliche Bestimmung des Arbeitsvertrages sei wegen dieser widersprüchlichen Aussagen unwirksam. Sie halte einer Inhaltskontrolle nicht stand. Dies schließe einen zum März 2022 eingetretenen Verfall des Urlaubsabgeltungsanspruchs der Klägerin aus dem Jahr 2021 aus.
Komme hinzu, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein:e Arbeitnehmer:in in einem Bezugszeitraum - hier 2021 - erworben habe, in dessen Verlauf tatsächlich gearbeitet wurde, zunächst nicht erlöschen könne, wenn der Arbeitgeber den:die Arbeitnehmer:in nicht tatsächlich in die Lage versetzt habe, diesen Anspruch auszuüben. Damit habe der nicht genommene Mehrurlaubsanspruch der Klägerin aus dem Jahr 2021 bis zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses der Parteien fortbestanden und sei abzugelten gewesen.
Auch das Urlaubsgeld muss die Beklagte nachzahlen
Das Urlaubsgeld sei der tarifvertraglichen Regelung zum Urlaubsanspruch und zur Urlaubsvergütung nachgeordnet. Ob ein Urlaubsgeld als urlaubsunabhängige Sonderzahlung ausgestaltet sei, oder, ob es von der Urlaubsgewährung und dem Urlaubsvergütungsanspruch abhänge, richte sich nach den vereinbarten Leistungsvoraussetzungen und sei durch Auslegung zu ermitteln.
Im Tarifvertrag sei diese Nachrangigkeit von Urlaubsanspruch und Urlaubsgeld bereits dadurch zum Ausdruck gebracht, dass der Anspruch auf Urlaubsgeld im Zusammenhang mit den Urlaubsregelungen im Tarifvertrag begründet werde. Komme hinzu, dass es tarifvertraglich ausdrücklich heiße,
„jede:r Arbeitnehmer:in erhalte neben dem Urlaubsentgelt ein zusätzliches Urlaubsgeld",
werde diese Abhängigkeit des Urlaubsgeldes zum Urlaubsentgelt ausdrücklich bestätigt.
Interessierten Leser:innen sei in diesem Zusammenhang auch der Beitrag
125 Tage Urlaub nach Kündigungsschutzverfahren
auf unserer Homepage empfohlen.
Rechtliche Grundlagen
§ 7 Abs. 3 BUrlG
(3) Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden. Auf Verlangen des Arbeitnehmers ist ein nach § 5 Abs. 1 Buchstabe a entstehender Teilurlaub jedoch auf das nächste Kalenderjahr zu übertragen.