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Es gibt einen schriftlichen Arbeitsvertrag, in dem die monatliche Bruttovergütung festgeschrieben ist und die durchschnittliche monatliche Arbeitszeit von 108 Stunden. Neumann ist noch kein Jahr bei der Firma und hat die ersten zehn Monate so gearbeitet, wie er eingeteilt worden ist und hat auch immer das gleiche zugesagte Gehalt bekommen. Daraus lässt sich noch nichts herleiten.

Arbeitsvertragliche Regelung zu Plus- und Minusstunden

Im Arbeitsvertrag findet sich noch folgender Passus: “Plusstunden werden einem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben und im Zeitraum vom 1. Oktober bis 28. Februar des Folgejahres durch Minusstunden abgebaut“. Weitere Regelungen zu einem Arbeitszeitkonto finden sich nicht.

Ein Tarifvertrag, der auch Regelungen zu Arbeitszeitkonten haben könnte, findet keine Anwendung.

Februarabrechnung enthält Abzug von 20 Stunden

Die Arbeitgeberin meinte, es seien über die Monate 20 Minusstunden angefallen. Daher könne sie im Februar das Gehalt um den Betrag von 270 € brutto kürzen. Gesagt - getan: zack ist das ohnehin schon niedrige Gehalt noch niedriger.

Das will sich Neumann nicht gefallen lassen.

Ist ein Arbeitszeitkonto vereinbart?

Bei Arbeitszeitkonten sind Verrechnungen, je nachdem wie die Vereinbarung ausgestaltet ist, unter Umständen möglich. Aber ist die Formulierung in Neumanns Arbeitsvertrag überhaupt schon ein Arbeitszeitkonto? Ein Arbeitszeitkonto gibt den Umfang der von den Arbeitnehmer*innen geleisteten Arbeit wieder und kann in anderer Form den Vergütungsanspruch ausdrücken, also zum Beispiel in Stunden.

Das Arbeitsgericht Siegen hat in seinem Urteil ausgeführt, dass ein Arbeitszeitkonto eingerichtet sein muss und es dafür einer entsprechenden Vereinbarung bedarf. Die Belastung eines Arbeitszeitkontos mit Minusstunden setze voraus, dass der Beschäftigte einen verstetigten Verdienst erhält. Das war bei Neumann der Fall. Er bekam immer das gleiche Gehalt.

Weiter käme es darauf an, ob Neumann zur Nachleistung der Stunden verpflichtet wäre, weil er die in Minusstunden ausgedrückte Arbeitszeit vorschussweise vergütet erhalten hat. Es muss also beurteilt werden, ob Neumann einen Vorschuss bekommen hat.

Wann ist eine Zahlung ein Vorschuss?

Neumann hat Geld bekommen für Stunden, in denen er nicht gearbeitet hat. Da könnte man an einen Vorschuss denken. Rechtlich ist es aber erst dann ein Vorschuss, wenn beide Seiten darüber einig sind, dass es sich um eine Vorwegleistung handelt, die bei Fälligkeit der Forderung verrechnet wird. Das könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn Neumann selbst entscheiden kann, ob er mit den Stunden ins Minus rutscht. Das wäre untypisch, denn Arbeitnehmer*innen werden üblicherweise zur Arbeit vom Arbeitgeber eingeteilt, meist gibt es Schicht- oder Dienstpläne. Das Risiko der Einsatzmöglichkeit bzw. des Arbeitsausfalls trägt daher regelmäßig der Arbeitgeber.

Hinnehmen ist kein Einverständnis

Das Arbeitsgericht Siegen ist daher der Meinung, wenn Neumann also - aus welchen Gründen auch immer - zu wenig Stunden geleistet hat, lässt das nicht den Schluss zu, dass er auch mit einem negativen Kontostand einverstanden war, der mit späteren Vergütungsforderungen verrechnet werden kann.

 

Regelung im Arbeitsvertrag reicht nicht aus

Wörtlich regelt der Arbeitsvertrag nur, dass Minusstunden mit vorhandenen Plusstunden verrechnet werden können. Er bietet keine Rechtsgrundlage dafür, die normale Vergütung zu kürzen, so das Arbeitsgericht. Auch habe die Arbeitgeberin nicht vorgetragen, dass die Minusstunden in der Sphäre von Neumann entstanden wären. Das könnte der Fall sein, falls Neumann gebeten hätte, ihn aus Schichten zu streichen.

Die Arbeitgeberin sah wohl ihre Felle davon schwimmen und behauptete, Neumann habe darum gebeten, mit der Verrechnung im Februar das Arbeitszeitkonto auszugleichen. Sie hat dafür eine Zeugin benannt. Der Vortrag der Arbeitgeberin hierzu war aber so allgemein und vage, dass das Gericht die Zeugin nicht hören wollte.

Unzulässiger Ausforschungsbeweis

Behaupten Prozessparteien etwas unkonkret und pauschal und bieten dafür Beweis an, muss das Gericht den Zeugen nicht hören, wenn es sich um einen sogenannten unzulässigen Ausforschungsbeweis handelt. Das ist der Fall, wenn es sich um einen Beweisantrag handelt, der nicht dem Beweis konkret behaupteter Tatsachen dient, sondern es erst ermöglichen soll, bestimmte Tatsachen in die Verhandlung einzuführen.

Genau das wäre hier der Fall gewesen. Die Arbeitgeberin hatte die Zeugin benannt und erst durch deren Aussage wäre eventuell der Zeitpunkt und der konkrete Inhalt der Unterredung zur Verrechnung geklärt worden. Also wurde die Zeugin nicht gehört.

Mangels einer entsprechenden Regelung zum Arbeitszeitkonto wurden Neumann die 270 € zugesprochen.

Berufungsstreitwert nicht erreicht

Der Arbeitgeberin war wegen des geringen Streitwerts, und, weil das Gericht die Berufung nicht gesondert zugelassen hat, damit kein Berufungsverfahren möglich, in dem sie vielleicht ihren Vortrag noch hätte nachbessern können.

Arbeitsgericht Siegen, Urteil vom 17. Mai 2022 - 2 Ca 494/21

Das sagen wir dazu:

Gerade bei niedrigen Verdiensten sollte das einmal vereinbarte Gehalt auch geschützt sein und nicht aus Gründen, die Arbeitnehmer*innen nicht beeinflussen können, Kürzungen möglich sein, ohne dass dies konkret vereinbart ist. Von daher ist die Entscheidung zu begrüßen.

Es kommt immer wieder vor, meist in Schlussabrechnungen, dass Lohn oder Gehalt nicht komplett abgerechnet, sondern mit Minusstunden verrechnet wird. Selbst, wenn diese Minusstunden angefallen sind, ist längst nicht immer eine Verrechnung möglich. Daher unser Standardrat: bei unklaren Abzügen die Abrechnungen zeitnah überprüfen lassen.