Das Landesarbeitsgericht kam in seinem Urteil auf einen Betrag von knapp 39.000 € und damit auf eine tägliche Arbeitszeit von über 21 Stunden. Diese Zeit habe die Klägerin entweder gearbeitet oder sei jedenfalls in Bereitschaft gewesen. Den Kindern der pflegebedürftigen Seniorin sei es erkennbar darum gegangen, dass die Mutter rund um die Uhr betreut sei.
Keine drei Stunden Freizeit pro Tag
Echte Freizeit hatte die Klägerin nur, wenn eines der Kinder zu Besuch war. Hierüber hatte das Gericht in der vorherigen Sitzung Beweis erhoben. Dabei kam heraus, dass die Tochter an einem Tag in der Woche vom Vormittag bis zum späten Nachmittag anwesend war, der Sohn an einem anderen Tag ebenfalls an einem Nachmittag.
Für diese Zeit gab es keine Vergütung. Für den Rest der Zeit hat die Klägerin Anspruch auf Vergütung in Höhe des Mindestlohnes von seinerzeit 8,50 €.
Das hatte das Bundesarbeitsgericht bereits in seinem vielbeachteten Urteil vom Juni 2021 entschieden. Auch entsandte ausländischer Pflegekräfte haben danach Anspruch auf Mindestlohn, und zwar auch für Zeiten des Bereitschaftsdienstes. Weil dem Bundesarbeitsgericht aber nicht plausibel war, wie das Landesarbeitsgericht in seiner ersten Entscheidung auf die vergütungspflichtige Stundenanzahl von 21 gekommen ist, hatte es den Rechtsstreit wieder dorthin zurückverwiesen.
Tatsächliche Arbeitsbelastung war höher als die geschätzte
Prozessvertreter Thomas Heller vom Gewerkschaftlichen Centrums für Revision und Europäisches Recht, der die Klägerin vor dem Bundesarbeitsgericht vertreten hat, hatte seinerzeit die Hoffnung geäußert, dass das Urteil ein Bewusstsein in der Öffentlichkeit schafft, dass Haushaltshilfen keine 24-Stunden-Betreuung erwartet werden darf, auch wenn sie so „beworben“ werden und für sie das deutsche Arbeitsrecht genauso gilt, wie für andere Arbeitnehmer*innen auch.
Mit der nun vorliegenden Entscheidung hat das Landesarbeitsgericht seine „Hausaufgaben“ gemacht und in einer neunstündigen Beweisaufnahme im April dieses Jahrs geklärt, in welchem Umfang die Klägerin tatsächlich tätig war. Dabei kam heraus, dass das Gericht mit seiner Schätzung noch vorsichtig war und die nun ermittelten Zeiten sogar noch über dem geschätzten Wert liegen.
Gert Groppel vom ver.di Kontaktbüro der DGB Rechtsschutz GmbH, der das Verfahren seit 2018 begleitet hat, kommentiert das Urteil positiv: „Das Urteil wird der Thematik absolut gerecht. Das Gericht hat sehr gewissenhaft herausgearbeitet, wie sich die Arbeitssituation der Klägerin konkret dargestellt hat. Es ist gut nachvollziehbar, dass es bestimmte Zeiten herausgerechnet hat, weil dann die Kinder eingesprungen sind. Mit der heutigen Entscheidung geht ein jahrelanger, für die Klägerin belastender Rechtsstreit zu Ende.“
Anja Piel: „Es lohnt sich zu klagen“
DGB Bundesvorstandsmitglied Anja Piel begrüßt die Entscheidung: „Bundesarbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben mit ihren Urteilen die Rechte hunderttausender Live-In-Betreuungskräfte in Deutschland gestärkt. Die aktuelle Entscheidung zeigt: Es lohnt sich zu klagen.
Damit Betreuungskräfte den Rechtsweg nicht ausschließlich individuell und unter hohem persönlichen Risiko beschreiten können, fordert der DGB ein Verbandsklagerecht. Die Koalition ist in der Pflicht, Betreuungskräfte von vornherein vor Ausbeutung und Arbeitsrechtsverstößen zu schützen. Sie muss praktikable, rechtskonforme Lösungen entwickeln, die nicht-pflegerische Bedarfe abdecken – zum Beispiel Arbeiten im Haushalt und andere Unterstützung und Betreuung.
Gleichzeitig bedarf es effektiver Vorkehrungen, damit Beschäftigte nicht in rechtlich fragwürdige Anstellungsmodelle wie Scheinselbständigkeit gedrängt werden, in denen sie ihre Rechte wieder mühsam erkämpfen müssen. Der Gesetzgeber muss außerdem endlich die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs umsetzen und Arbeitgeber verpflichten, ein manipulationssicheres, verlässliches und zugängliches Zeiterfassungssystem für alle Beschäftigten einzuführen. Auch Bereitschaftszeiten müssen damit lückenlos erfasst werden.“
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