„Verantwortungsvolle Normalität“ ist das Zauberwort für den nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet, wenn es um Lockerungen der Corona-Maßnahmen geht. Scheinbar wurde beim Fleischzerleger Tönnies „normal“ weitergearbeitet. Von verantwortungsvoll kann dabei nicht die Rede sein.

Der Kreis Gütersloh war nahezu „coronafrei“

In manchen Städten und Gemeinden des Kreises gab es in den letzten Wochen keine Neuinfizierten zu vermelden, in den übrigen waren die Zahlen einstellig. Dann schossen die Zahlen hoch. Die vielen Neuinfektionen standen im Zusammenhang mit der örtlichen Fleischindustrie. Die Befürchtungen waren groß und bestätigten sich leider.

Am Mittwoch dem 17. Juni waren von 500 Tests im Tönnies-Werk in Rheda-Wiedenbrück 400 positiv. Die direkte Folge traf die Kinder im Kreis. Die Schulen, die schrittweise wieder Präsenzunterricht möglich machten, mussten schließen. Besonders hart für die Kleinsten: Grundschulen und Kitas in NRW hatten zwei Tage zuvor die Türen wieder für alle Kinder geöffnet.

Tönnies schließt Werk in Rheda-Wiedenbrück vorübergehend

Bei über 700 bestätigten Corona-Fällen (Stand 18. Juni) bleibt eine Schließung nicht aus. 7.000 Menschen müssen in Quarantäne.

Viele der infizierten Arbeiter sind unter sehr schlechten Bedingungen untergebracht. Das Unternehmen Tönnies teilt mit, für eine Versorgung sei gesorgt. Zudem habe man einen Sicherheitsdienst damit beauftragt, das Einhalten der Quarantäne zu überwachen.

Schärfere Auflagen für die Fleischindustrie erforderlich

Das ist auch zu den Politikern durchgedrungen. Am 20. Mai erklärte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil dazu: „Diese Infektionen gefährden die erkrankten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Und sie gefährden die lokalen Lockerungen, die wir gemeinsam erreicht haben - und damit das Leben in den betroffenen Regionen".

Der Minister reagierte damit auf eine Warnung, Werkverträge in der Fleischindustrie ganz zu verbieten. Ausgesprochen, wie könnte es anders sein, von Clemens Tönnies. Massive, strukturell-negative Veränderungen für die Agrarwirtschaft seien zu befürchten.

Welche Gefahr sich hier realisiert hat, ist eindeutig und klärt diesen Disput.

Clemens Tönnies kündigt viel zu spät Maßnahmen an

Am 16. Juni kündigte er an, drastische Maßnahmen gegen die Corona-Ausbreitung in seinem Konzern einzuleiten. Da stellen sich viele Fragen: Warum werden überhaupt erst zu einem solch späten Zeitpunkt Maßnahmen eingeleitet? Und inwiefern sind diese drastisch? Es ging darum, weniger Personal in der Zerlegung einzusetzen, um dort für mehr Abstand zwischen den Mitarbeitern zu sorgen. Ein ausreichender Abstand sollte aber schon längst Standard sein.

Mit dem Blick auf den Kreis Gütersloh darf man sich fragen, warum Großkonzerne wie Bertelsmann, Miele und Claas schon im März in der Lage waren, kurzfristig auf die Corona-Pandemie zu reagieren. Homeoffice, geänderte Schichtbeginne, versetzte Arbeitszeiten, Kurzarbeit. Alles Möglichkeiten, den Kontakt der Beschäftigten zu minimieren. Schnell fand man Lösungen für die Umsetzung der Abstandsregelungen und das trotz einer großen Zahl von Arbeitnehmer*innen und negativer wirtschaftlicher Folgen.

Corona zeigt Schwächen im System überdeutlich

Und bei Tönnies? Da standen die Arbeiter bis zuletzt Schulter an Schulter an den Zerlegeplätzen. Und warum? Weil das Schlachten von 20.000 Schweinen am Tag systemrelevant ist? Oder doch eher wegen einer machtvollen Fleischlobby, die große Teile aus Politik und Bevölkerung seit Jahren über untragbare Arbeits- und Hygienebedingungen hinwegschauen lässt?

Bleibt zu hoffen, dass die Masseninfektionen in der Fleischindustrie das Fass zum Überlaufen gebracht haben und die Regierung nun wirklich hart durchgreift. Hubertus Heil kündigt immerhin an, im Schlachthof aufzuräumen. Eine gute Sache, wenn auch letztlich nicht der Arbeitsminister, sondern Corona aufgeräumt hat.

Den Ärger auf das Unternehmen Tönnies nicht verblassen lassen!

Wir sollten Angst und Unmut kanalisieren und damit unser soziales Gewissen stärken. Denn nicht nur heute, sondern auch an allen folgenden Tagen sollten wir darauf achten, wie häufig, wo und aus welcher Herstellung wir Fleisch kaufen.

Lesen Sie auch:

Fleischindustrie: Eckpunkte eines Arbeitsschutzprogramms beschlossen

Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie sind entsetzlich, beschämend und nicht zu tolerieren