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Wir waren dabei

75 Jahre Ruhrfestspiele – vielseitig und diesmal digital aber vielleicht nicht nur

Der DGB und die Stadt Recklinghausen veranstalten jährlich das älteste und zugleich eines der größten und renommiertesten Theaterfestivals Europas, die Ruhrfestspiele. 1947 gastierten unter dem Motto „Kunst für Kohle“ 150 Schauspieler*innen der Hamburgischen Bühnen bei einem Festival im Städtischen Saalbau Recklinghausen. Wegen Corona gibt es im Jubiläumsjahr hybride Festspiele, zunächst digital und dann mal sehen.

Die Geschichte beginnt im Hamburg der Nachkriegszeit. Die Theater dort hatten im Winter 1947 große Probleme, weil sie wegen fehlendem Brennstoff Ihre Räumlichkeiten nicht beheizen konnten. Der Betriebsratsvorsitzende und der Verwaltungsdirektor der Hamburgischen Staatsoper fuhren deshalb mit einem LKW ins Ruhrgebiet, um bei den Zechen um Hilfe zu bitten. Mit den Kumpels der Zeche „König Ludwig“ in Recklinghausen fanden sie solidarische Zeitgenossen.

Heimlich beluden die Bergleute unter Umgehung aller Vorschriften den LKW mit Kohle. Mehrfach fuhr in dieser Zeit ein LKW zwischen Hamburg und dem Ruhrgebiet hin und her, um illegal Kohle an die Hamburger Theater zu befördern. Das Ganze wurde erst gestoppt, als die Militärpolizei der britischen Besatzungstruppen davon Wind bekam. 

Die Ruhrfestspiele wurden 2020 erstmals in ihrer Geschichte abgesagt

Als Gegenleistung gastierten die Schauspieler*innen der Hamburgischen Bühnen im Städtischen Saalbau Recklinghausen. Der Beginn der Ruhrfestspiele. Wir hatten darüber berichtet:

Weder die Not der Nachkriegszeit noch die britischen Militärbehörden hielten Kumpels, Schauspieler*innen und Gewerkschafter*innen davon ab, in Recklinghausen gemeinsam ein Festival zu veranstalten. Auch spätere wirtschaftliche und politische Turbulenzen verhinderten nicht, dass Jahr für Jahr Ruhrfestspiele stattfanden, seit 1961 sogar in einem eigens dafür errichteten Festspielhaus.

Das schaffte erstmals im letzten Jahr eine winzige organische Struktur, die lediglich aus RNA besteht und nicht einmal dazu in der Lage ist, sich ohne einen Wirt zu vermehren. Das Coronavirus sorgt auch in diesem Jahr dafür, dass es keine großen Präsensveranstaltungen geben wird.

Das „hybride“ Festival hat digital begonnen

Die Veranstalter haben für die vom 1. Mai bis zum 20. Juni dauernde Saison unterschiedliche Festival-Szenarien geplant: ein Livefestival, Festival-Varianten in hybrider oder rein digitaler Form. Aufgrund der unsicheren Situation im Hinblick auf die Pandemie haben sie sich entschlossen, die aktuelle Ruhrfestspiele-Saison weiterhin hybrid zu planen. Das Festival hat am 1. Mai 2021 digital begonnen. Zudem bietet die Festivalleitung Karten für Live-Veranstaltungen ab dem 21. Mai an. 

Das Kulturvolksfest am Festspielhaus in Recklinghausen am 1. Mai, der traditionelle Auftakt des Festivals, mussten die Veranstalter wegen der Pandemie leider absagen. Die Alternative konnte sich aber auch sehen lassen: unter dem Motto „Erster Mai auf dem Hügel“ ersetzte ein digitales sehenswertes Kulturprogramm mit Politik das Volksfest. „Daheim ohne Paywall“ statt „Umsonst und Draußen“. Neben Künstlern wie „Caterva’s Online-Musikzimmer“, Tupoka Ogette, das Jugendsinfonieorchester und die Neue Philharmonie Westfalen nahmen auch DGB-Gewerkschaften an der digitalen Veranstaltung teil.

Der Bundespräsident grüßt – coronagerecht - aus der Ferne

Am 2. Mai eröffneten Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Ministerpräsident Armin Laschet mit Grußworten offiziell das Programm. Die diesjährige Festrede hielt die Autorin Enis Maci. Anschließend gab es eine Deutschlandpremiere: „Die Seidentrommel. Ein modernes Nō-Spiel“ von Yoshi Oida inspiriert von Yukio Mishima, in der Regie und Choreografie von Kaori Ito & Yoshi Oida, in einer Koproduktion des Festival d'Avignon und Théâtre de la Ville, Paris.

Der Bundespräsident grüßte aus der Ferne, aus dem Schloss Bellevue in Berlin. Zwar treffe die Pandemie die Ruhrfestspiele zum zweiten Mal, aber dieses Jahr sei alles anders, so das Staatsoberhaupt. „Wo noch 2020 lediglich die Gesichter der vielen Menschen, die hier eigentlich Kunst machen wollten, als unübersehbares „Trotz alledem“ auf die Fassade projiziert wurden, finden dieses Jahr echte Festspiele statt – zwar vor allem im digitalen Raum, aber – mit etwas Glück – nicht nur.“.

Tatsächlich zeigen die Veranstalter bis zum 20. Juni viele Höhepunkte in ihrem „ Digitalen Ruhrfestspielhaus“: Als digitale Premiere präsentieren sie am 14. Mai die neue Arbeit des Circa Contemporary Circus aus Australien mit dem Titel „Sacre“, die bereits 2020 als Weltpremiere für die Ruhrfestspiele geplant war. 

Bis zum 20. Juni gibt es viele Produktionen 

Im Jubiläumsjahr war es den Veranstaltern besonders wichtig, eine Produktion aus Hamburg zu zeigen – der Stadt, die eine so wesentliche Rolle in der Begründung der Ruhrfestspiele spielt. In der Regie von Dušan David Parízek wird „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ nach dem gleichnamigen Roman von David Grossman aus dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg digital zu sehen sein.

Ebenfalls bereits für 2020 geplant war die Produktion „Don Quijote“ von Jakob Nolte nach Miguel de Cervantes in der Regie von Jan Bosse aus dem Deutschen Theater in Berlin. Die Produktion wird nun exklusiv für die Ruhrfestspiele aufgezeichnet, damit sie als Stream im Spielplan der Ruhrfestspiele gezeigt werden kann. Die digitale Vorstellung ist für den 21. Mai geplant und wird, auch wenn ab diesem Tag es wieder Live-Veranstaltungen geben sollte, digital gezeigt werden.

Gerade in der Pandemie ist den meisten bewusst geworden, wie wichtig Kunst und Kultur sind, wie sehr sie uns fehlen, wenn sie ausgebremst werden. Das Virus und seine Folgen würden uns zeigen, so Steinmeier in seiner Eröffnungsrede, dass Kultur ist nicht lediglich ein „nice to have“ sei. Kultur sei Lebensmittel, Kunst sei unverzichtbar. Und mehr noch: „Kunst ist Arbeit“.

Kunst ist Arbeit, darauf wies der Bundespräsident hin

Zurecht wies der Bundespräsident darauf hin, dass zehntausende Menschen im ganzen Land nicht nur als Künstler ausgebremst worden seien. Sie würden sich vielmehr in ihrer Existenz bedroht sehen. „Sie müssen ihre Miete zahlen und fürs Essen einkaufen, sie ziehen Kinder groß und tragen Verantwortung. Kultur ist Arbeit, Künstler und Kulturschaffende leben von dieser Arbeit, jeden Tag, und ihre Arbeit hat Anspruch auf Anerkennung.“

Die Ruhrfestspiele in der geplanten „hybriden“ Form sind mehr als nur ein Lichtblick in einer Zeit, in der viele Künstler*innen ihren Job aus wirtschaftlicher Not aufgeben mussten. In einer Zeit, in der wir uns fragen, warum Theater, Konzerte und Kleinkunst eigentlich nicht als „systemrelevant“ gelten. Oder andersherum gefragt: was halten wir eigentlich von einem Leben in einem System, das eher auf Kunst und Kultur verzichten kann als auf Wertpapierhandel?

Kunst und Kultur muss auch in der Krise überleben

In einer solchen Zeit freuen wir uns, dass Deutscher Gewerkschaftsbund und Stadt Recklinghausen nicht nur ein üppiges digitales Programm auf die Beine gestellt haben, sondern ein „hybrides“ Festival. Die Veranstalter reagieren flexibel auf die Erfordernisse der Pandemie nach einem abgewandelten alten gewerkschaftlichen Motto: wer macht kann enttäuscht werden, wer nicht macht, hat schon verloren.

Der Bundespräsident jedenfalls fordert die Veranstalter auf, die Wochen des Festivals dazu zu nutzen, ein lautes und unüberhörbares Zeichen für die lebenswichtige Bedeutung der Kultur zu setzen. „Fordern Sie hier und andernorts lautstark ein, was uns allen am Herzen liegt: dass Kunst und Kultur auch in der Krise überleben und nach der Krise wiederauferstehen werden. Denn ohne Kultur wird es dunkel in unserem Land.“