Im Dezember 2010 sorgte eine Entscheidung der FIFA für eine Sensation: die Fußballweltmeisterschaft 2022  wird im Emirat Katar ausgetragen. Ein Land, das flächenmäßig etwa 4,5-mal so groß ist wie das Saarland, erheblich weniger Einwohner als Berlin hat und dessen Landschaft hauptsächlich aus Wüste besteht.  Ein Land, dessen Nationalteam noch nie an einer Weltmeisterschaft teilgenommen hat. Dessen Team man jetzt gerade aufbaut und das freiwillig an Qualifikationsturniere teilnimmt, obwohl es als Gastgeber bereits qualifiziert ist. Um Spielpraxis zu sammeln.

 

Dass Fußball als Rasen- und Kampfsport in Katar keine Tradition hat, ist nicht weiter verwunderlich. Nicht nur, dass es an Rasen mangelt. Mit einem Jahresniederschlag von unter 100 mm gehört Katar zu den trockensten Landschaften der Erde. Das Klima ist ganzjährig schwül, subtropisch und heiß. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei 85 %. Im Sommer gibt es häufig Temperaturen von 45 °C, im Winter sinken sie auf durchschnittlich auf 17 °C.

Die Fußballweltmeisterschaft findet zur Adventszeit statt

Da war es nur konsequent von der FIFA, erstmals die Veranstaltung nicht während des Sommers auf der Nordhalbkugel stattfinden zu lassen. Sie wird im Advent ausgetragen. Das wird die Spielpläne fast aller nationalen und internationalen Vereinsligen ziemlich durcheinanderbringen. Gleichwohl können die Spiele wegen des tropischen Klimas nicht in normalen Stadien an der frischen Luft stattfinden. Es werden hochmoderne, vollklimatisierte Sportstätten eigens für die WM gebaut.

 

Um keine Missverstände aufkommen zu lassen: es ist sehr zu begrüßen, wenn Veranstaltungen wie die Fußballweltmeisterschaft oder die Olympischen Spiele nicht nur in Europa oder anderen Ländern, die es sich leisten können, stattfinden. Schön, wenn die Weltsportgemeinde so solidarisch wäre, dass sie solche Großereignisse auch in ärmeren Ländern stattfinden ließe, indem sie diese gemeinsam finanziert.

Katar ist das reichste Land der Welt

Katar ist aber gerade kein armes Land. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf, gilt es heute als das reichste Land der Welt, vor Luxemburg und Chinas Sonderverwaltungszone Macau. Ein Land, das Anfang des 20. Jahrhunderts britisches Protektorat wurde und seit 1913 von der Familie Al-Thani regiert wird. Nicht immer einvernehmlich und harmonisch, mehrfach putschten Söhne gegen ihre Väter. 

 

Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts entdeckte man ein Ölfeld unter einem Küstenstreifen nahe der Stadt Dukhan. Anfang der siebziger Jahre entließen die Briten Katar in die Unabhängigkeit. In der Familie kam es wieder einmal zum Putsch. Khalifa bin Hamad setzte seinen Vater ab und wurde zum Staatsoberhaupt, zum Emir. Etwa zur gleichen Zeit entdeckte man an der Küste jetzt auch noch ein großes Erdgasfeld, das zusätzlich Geld in die Kassen des Emirs spülte. Dieser erwies sich auf seiner Art durchaus als weise. Er verprasste das Geld nicht, sondern ließ in Krankenhäuser, Schulen, Kraftwerke und soziale Einrichtungen investieren. 

Der Familie des Emirs hat Anteile an vielen großen Unternehmen

Ende der neunziger Jahre ereilte Khalifa bin Hamad dasselbe Schicksal wie sein Vater: sein Sohn Hammad bin Khalifa putschte seinen Vater fort und machte sich sogleich daran, sein Land wirtschaftlich weiterzubringen.  Mit Milliardeninvestitionen aus der Öl- und Gasförderung finanziert Katar die „Education City“, die Ableger mehrerer amerikanischer und europäischer Universitäten beherbergt. Der Familie des Emirs gehören zudem Anteile an der Deutschen Bank, Siemens, Volkswagen, Porsche, Hapag Lloyd und der Credit Suisse.

 

Jede Menge Kohle also. Und die wird auch in den Sport investiert. Für strategische und direkte Investitionen ist in Katar die Qatar Holding LLC zuständig. Diese kaufte 2012 den Fußballverein Paris Saint-Germain (PSG) und führte ihn mit viel Geld in die europäische Spitze. Weltweit Aufsehen erregte der Verein, als er für eine Ablöse von 222 Millionen Euro den linken Flügelspieler Neymar Junior vom FC Barcelona loseiste. Diesen Betrag hatte Neymar offiziell selbst gezahlt, allerdings stellte sich heraus, dass er das Geld zuvor aus Katar bekommen hatte.

Katar ist gemäß seiner Verfassung ein demokratischer Staat

Das Emirat ist also ganz offensichtlich dazu bereit und in der Lage, sehr viel Geld in den Fußball zu investieren, aus welchen Beweggründen auch immer. Und 2020 konnte sich Katar immerhin als Bewerber gegen Australien, Japan, Südkorea und den USA durchsetzen. Honi soit qui mal y pense  - ein Schelm, wer Böses dabei denkt!

 

Aber das ist nur der harmlose Teil der Geschichte. Katar ist gemäß seiner Verfassung ein demokratischer Staat, in dem auch Frauen das aktive und passive Wahlrecht haben. Gewählt wird allerdings hauptsächlich auf kommunaler Ebene. Katar ist ein Emirat, also ein Land, das von einem Emir, einem Fürsten, souverän verwaltet wird.  Staatsreligion ist der Islam und laut Artikel 1 der Staatsverfassung ist die Scharia die Hauptquelle der Gesetzgebung. Die internationale Zeitung „The Economist“ berechnet jährlich einen Index, der den Grad der Demokratie in 167 Ländern misst. Katar gehörte 2020 mit Platz 126 zu den „autoritären Systemen“. Emir ist im Übrigen inzwischen Tamim bin Hamad, dessen Vater  - o Wunder  - freiwillig abgedankt hatte. Ein Novum in der Geschichte des Landes. 

Katar leidet an einem enormen Mangel an Arbeitskräften

Katar steht seit Jahren in dem Verdacht, internationale Terrorgruppen wie den „islamischen Staat“ und auch die extremistische Muslimbruderschaft zu unterstützen.  Viele arabische Staaten haben die Beziehungen zu dem Emirat deshalb abgebrochen. 

 

Wie alle arabischen Golfstaaten, leidet auch Katar an einem enormen Mangel an Arbeitskräften. Es wäre nie und nimmer dazu in der Lage gewesen, ohne den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte die für die WM notwendige Infrastruktur auch nur ansatzweise zu errichten. Das Land musste also Arbeitskräfte von außen anwerben, um den Bau von sieben Stadien, einem Flughafen, vieler Straßen und den öffentlichen Nahverkehr sicher stellen zu können. Und man plant gigantisch: extra für das Finale wird mit Lusail City eine eigene Großstadt mit U-Bahn-Netz nördlich der Hauptstadt Doha gebaut. 

 

Zwischen 88 und 95 Prozent der Einwohner Katars sind inzwischen ausländischer Herkunft. Die Arbeits- und Lebenssituation der Arbeiter*innen, die von auswärts kommen, ist oft menschenunwürdig. Wie in vielen arabischen Staaten hat Katar in seinen Gesetzen das sogenannte „Kafala-System“ festgeschrieben. Vereinfacht bedeutet dieses System, dass Arbeitnehmer*innen aus dem Ausland einen einheimischen Bürgen, einen Kafīl, benötigen. Das ist dann in der Regel der Arbeitgeber.

2.3 Millionen Migrant*innen moderne Sklaven arbeiten bei katarischen Baufirmen, Gewerkschaften sind verboten

Dieser ist berechtigt, die Ausweispapiere seiner Arbeitnehmer*innen für die Dauer des Arbeitseinsatzes einzubehalten. Das System bindet die Beschäftigten sehr eng an die Arbeitgeber. Sie können nicht von sich aus etwa den Arbeitgeber wechseln oder das Emirat verlassen. 

 

Etwa 2,3 Millionen Arbeitsmigranten aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka sind so etwas wie moderne Sklaven bei katarischen Baufirmen. Sie leben, arbeiten und schlafen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Häufig zahlten die Arbeitgeber*innen die Löhne verspätet oder gar nicht aus. Und sie untersagten ihren „Schützlingen“ sich in Gewerkschaften zu organisieren.

 

Zwar hatte sich Katar auf internationalem Druck verpflichtet, sein Arbeitssystem ab 2018 grundlegend zu überarbeiten. Das Emirat arbeitete jetzt mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zusammen und verpflichtete sich u.a., das menschenfeindliche Kafala-System abzuschaffen.  Am 16. Oktober 2019 verabschiedete der Ministerrat des Staates Katar einstimmig neue Gesetze, die es den Arbeitnehmern ermöglichen, ihren Arbeitgeber frei zu wechseln.

Die katarische Regierung hat die Reformen nicht rigoros umgesetzt

Seitdem hat das Land weitere wichtige Gesetzesreformen durchgeführt und etwa ein Gesetz zur Einführung eines flächendeckenden, diskriminierungsfreien Mindestlohns verabschiedet.  Vor Ort hat sich aber wenig geändert. Die katarische Regierung hat die Reformen aber nicht rigoros umgesetzt, ihre Durchsetzung nicht überwacht und die Verantwortlichen für Gesetzesverstöße nicht zur Rechenschaft gezogen, wie Amnesty International in einem kürzlich vorlegten Bericht feststellt.

 

Die britische Tageszeitung „The Guardian“ hatte darüber berichtet, dass mehr als 6.500 Gastarbeiter, vorwiegend junge Männer, in Katar in Zusammenhang mit den Arbeiten für die WM seit 2010 verstorben sind. Deren Herkunftsländer Indien, Bangladesch, Nepal, Pakistan und Sri Lanka hatten sie als Todesopfer gemeldet. Andere Herkunftsländer der Gastarbeiter wie Kenia oder die Philippinen hatten keine Opferzahlen gemeldet, sodass die tatsächliche Zahl noch höher liegen dürfte. Zudem ist bereits ein weiteres Jahr vergangen, ohne dass die Situation der Betroffenen wirklich gebessert hätte.

 

Im vergangenen Jahr sollen laut einer aktuellen Veröffentlichung der ILO 50 Arbeitsmigrant*innen ums Leben gekommen sein. Die Hauptursache für die Todesfälle seien demnach Stürze am Arbeitsplatz. Es wurden zudem 506 schwere Verletzungen registriert und 37.600 Menschen erlitten leichte bis mittelschwere Verletzungen. Die meisten verletzten Arbeiter stammten aus Bangladesch, Indien sowie Nepal.

 

Mit jedem Tag, der verstreiche, seien die Arbeitnehmer*innen im ganzen Land weiterhin skrupellosen Arbeitgeber*innen ausgeliefert, schreibt Amnesty in seinem neuesten Bericht. Weiterhin würden die Arbeitgeber*innen die Beschäftigten mit Lohndiebstahl, unsicheren Arbeitsbedingungen und manchmal unüberwindbaren Hindernissen beim Arbeitsplatzwechsel konfrontieren. Ausländischen Arbeitnehmer*innen sei es nach wie vor untersagt, sich gewerkschaftlich zu organisieren, um gemeinsam für ihre Rechte zu kämpfen.

Arbeitgeber*innen werden nicht daran gehindert, ihre Beschäftigten ungestraft auszubeuten und deren Menschenrechte zu missachten

Die Justiz sei für diesen Personenkreis kaum zugänglich und es gebe so gut wie keine Möglichkeiten, Rechtsmittel gegen diese Missstände einzulegen. Inmitten dieser Atmosphäre würden die Arbeitgeber*innen mit „business as usual" fortfahren. Sie würden nicht daran gehindert, ihre Beschäftigten ungestraft auszubeuten und deren Menschenrechte zu missachten.

 

In ihrer jüngsten Analyse warnt Amnesty International, dass Katar dringend Maßnahmen ergreifen muss, um den Reformprozess endlich abzuschließen und die Reformen vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft im November 2022 ordnungsgemäß durchzusetzen. Wenn dies nicht geschehe, bestünde die Gefahr, dass allein im nächsten Jahr Tausende Arbeitsmigrant*innen weiterhin von Menschenrechtsverstößen und Ausbeutung an ihren Arbeitsplätzen bedroht sein werden, ohne dass es eine Aussicht auf Abhilfe gebe. Für diejenigen Arbeitskräfte, die nach dem Ende des Turniers in Katar blieben, könnte sich die Lage sogar noch weiter zuspitzen, so die internationale Menschenrechtsorganisation.

Sollten die Fußballverbände der westlichen Demokratien die WM boykottieren?

Seit Jahren wird kontrovers diskutiert, ob der DFB die WM in Katar boykottieren sollte. Amnesty International, Human Rights Watch und der Internationale Gewerkschaftsbund sprechen sich bislang nicht für einen Boykott des Turniers aus. Es gibt das Argument, dass die WM ein Weg sei, in den Dialog zu treten und sich zu engagieren, um Veränderungen herbeizuführen. 

 

Amnesty International habe sich dafür entschieden, die Aufmerksamkeit für die WM zu nutzen, um auf die Missstände und die Ausbeutung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in Katar hinzuweisen und ganz konkrete Verbesserungen zu erreichen, erklärt etwa Regina Spöttl, Katar-Expertin bei Amnesty International. Die WM habe geholfen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Lage der Arbeitsmigrantinnen und -migranten zu lenken. Der damit verbundene Druck trage dazu bei, dass die Verantwortlichen in Katar seit 2017 einige Anstrengungen unternommen hätten, um Reformen der Arbeitsgesetze einzuleiten.

 

Da hat sie sicher insoweit Recht. Allerdings spricht das nicht gegen einen Boykott. Im Gegenteil. Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit als solche hat noch nicht viel verändert. Wenn sie letztlich ohne Konsequenzen bleibt. Nach dem Turnier wird diese Aufmerksamkeit  - die Erfahrung lehrt das  - ohnehin wieder verschwunden sein. Und alles bleibt, wie es ist, wenn nicht irgendetwas folgt, was die Herrschenden in Katar unter Druck setzt. Der wird nicht vom DFB kommen, auch nicht von der deutschen Regierung oder der EU. Von all denen lassen sich Emire und Scheichs nicht schrecken.

 

Aber ihre Freund*innen von der Deutschen Bank, Siemens, Volkswagen, Porsche, Hapag Lloyd und der Credit Suisse. Alle, die mit ihnen zusammen viel Geld verdienen. Die könnten Ihren Einfluss schon geltend machen, wenn sie wollten. Oder die Essener Hochtief AG und die Stuttgarter Ed. Züblin AG, die als Subunternehmen für eine staatliche katarische Baugesellschaft viel Geld verdienen und irgendwie auch vom katarischen „Arbeitsrecht“ profitieren.

 

Und ein Boykott durch die Verbände namhafter Fußballverbände entstünde noch mehr Aufmerksamkeit. Und die würde nicht so schnell verschwinden. Wenn „meine Mannschaft“ am wichtigsten Turnier seit vier Jahren nicht teilnimmt, das vergesse ich nicht so schnell.

Hier geht es zum Bericht von Amnesty International (PDF).