Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Der Entschädigungsanspruch erfordert eine gewisse Schwere der Belastung. Verfahrensverzögerungen durch das Verhalten der Parteien sind grundsätzlich nicht dem Gericht anzulasten. Umgekehrt kann sich der Staat zur Rechtfertigung einer überlangen Verfahrensdauer nicht auf Umstände innerhalb seines Verantwortungsbereichs berufen. Die Überlastung eines Gerichts, wie auch eine längerfristige Erkrankung von Richter:innen, fällt - anders als unvorhersehbare Zufälle oder schicksalhafte Ereignisse - in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft.
Das sind die entscheidenden Ausführungen im Urteil des VGH Bayern. Carmen Winter aus dem DGB Rechtsschutzbüro Augsburg erzielte damit zumindest einen Teilerfolg, wie wir ihn in Entschädigungsverfahren nur selten haben. Einen Antrag auf Entschädigung zu stellen, ist es damit durchaus wert und es kann sich lohnen, daran zu denken; denn der Rechtsstreit vor dem VG war in zeitlicher Hinsicht gar nicht einmal so besonders.
Es ging um eine Ruhestandsversetzung
Der Kläger, ein verbeamteter Posthauptsekretär, wurde auf der Grundlage mehrerer betriebsärztlicher Gutachten wegen Dienstunfähigkeit in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Eine anderweitige Verwendung hatte der Dienstherr nicht gefunden. Den Widerspruch des Klägers wies er mit Widerspruchsbescheid vom 8. April 2020 zurück.
Am 7. Mai 2020 erhob der Kläger Klage beim VG Augsburg. Dies erklärte sich am 8. Juli 2020 für örtlich nicht zuständig und verwies das Verfahren an das VG München, wo es am 17. Juli 2020 einging. Unsere Jurist:innen begründeten die Klage am 18. August 2020 und baten am 17. Dezember 2020 um Sachstandsmitteilung – also gut sieben Monate nach Klageerhebung.
Die Klageerwiderung stand lange aus
Das VG erinnerte die Beklagte an die Abgabe der noch ausstehenden Klageerwiderung. Diese ging jedoch erst nach nochmaliger Erinnerung durch den Kläger vom Februar 2021 am 15. März 2021 ein.
Der Kläger bat um Akteneinsicht, die ihm im April 2021 ermöglicht wurde. Am 17. Mai 2021 nahm der Kläger zur Klageerwiderung der Beklagten Stellung. Am 8. August 2021 und noch einmal am 23. Dezember 2021 bat er wiederholt um Sachstandsmitteilung und Terminierung. Das VG verwies auf den Vorrang älterer Verfahren.
Am 8. April 2022 erhoben die Prozessbevollmächtigten Verzögerungsrüge. Das ist nötig, will man später einen Antrag auf Entschädigungsleistungen durchsetzen. Erst am 29. September 2021 erfolgte dann die Ladung zum Gerichtstermin am 26. Oktober 2021. Das VG wies die Klage mit Urteil vom 26. Oktober 2022 ab. Den Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte der VGH Bayern mit Beschluss vom 8. Februar 2023 ab. Die ursprüngliche Klageerhebung lag da knapp drei Jahre zurück.
VGH bestätigt Entschädigungsanspruch für zwölf Monate
Der Kläger habe für eine unangemessene Verfahrensdauer im Umfang von zwölf Monaten Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nachteils in Höhe von 1.200,- € zuzüglich der Prozesszinsen seit Rechtshängigkeit der Entschädigungsklage, entschied der VGH. Soweit er darüber hinaus eine Entschädigung für zwölf weitere Monate in Höhe von 1.200,- Euro zuzüglich Prozesszinsen begehrt, hatte seine Klage keinen Erfolg.
Nach dem GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nicht von festen Zeitvorgaben oder abstrakten Orientierungs- bzw. Anhaltspunkten auszugehen, sondern von den bedeutsamen Umständen des Einzelfalls.
Angesichts der Vielgestaltigkeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren stießen solche Vorgaben an eine Komplexitätsgrenze und könnten für die Angemessenheit im Einzelfall nicht aussagekräftig sein, so der VGH. Die Bandbreite der Verwaltungsprozesse reiche von sehr einfach gelagerten Verfahren bis zu äußerst aufwändigen Großverfahren (etwa im lnfrastrukturbereich), die allein einen Spruchkörper über eine lange Zeitspanne binden könnten. Der Versuch, dieser Bandbreite mit Mittel- oder Orientierungswerten Rechnung zu tragen, ginge nicht nur am Einzelfall vorbei, sondern wäre auch mit dem Risiko belastet, die einzelfallbezogenen Maßstäbe des BVerfG und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu verfehlen.
Die Verfahrensdauer muss angemessen sein
Für die Angemessenheit der Verfahrensdauer komme es auch darauf an, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eingetreten sind, sachlich gerechtfertigt sind. Verfahrenslaufzeiten, die durch die Verfahrensführung des Gerichts bedingt sind, führten nur zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie - auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums - sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind. Art. 6 Abs. 1 EMRK fordere zwar, dass Gerichtsverfahren zügig betrieben werden, betone aber auch den allgemeinen Grundsatz einer geordneten Rechtspflege.
Das Ende des gerichtlichen Gestaltungszeitraums werde durch den Zeitpunkt markiert, ab dem ein (weiteres) Zuwarten auf eine verfahrensfördernde Entscheidung bzw. Handlung des Gerichts im Hinblick auf die subjektive Rechtsposition des/der Betroffenen auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht mehr vertretbar sei, weil sich die (weitere) Verzögerung bei Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalls als sachlich nicht mehr gerechtfertigt und damit als unverhältnismäßig darstelle. Das sei nicht mit dem Zeitpunkt gleichzusetzen, bis zu dem in jedem Fall von einer „optimalen Verfahrensführung" des Gerichts auszugehen ist.
Die Belastung muss schwer sein
Der Entschädigungsanspruch setze voraus, dass der/die Beteiligte durch die Länge des Gerichtsverfahrens in seinem Grund- und Menschenrecht auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit beeinträchtigt worden ist, was eine gewisse Schwere der Belastung erfordere.
Das Ausgangsverfahren betraf einen Fall aus dem Beamtenrecht, der nach Auffassung des VGHs in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht mindestens durchschnittliche Schwierigkeiten aufwies. Das VG habe eine erhebliche berufliche und gesundheitliche „Vorgeschichte“ des Klägers sowie das Vorliegen der formellen Voraussetzungen für die Ruhestandsversetzung des Klägers zu klären und auch umfangreiche ärztliche Gutachten zu prüfen gehabt, um die Frage der Dienstfähigkeit des Klägers beurteilen zu können. Nicht nur der Dienstherr, sondern auch das Gericht müsse die ärztlichen Befunde und Schlussfolgerungen nachvollziehen und sich auf ihrer Grundlage ein eigenes Urteil bilden.
Bei der Beurteilung der Verfahrensdauer geht der VGH vom Eingang der Akten beim VG München aus. Bis zur Entscheidung in erster Instanz seien ab diesem Moment 28 Monate und elf Tage vergangen. Hiervon müssten jedoch für die Beurteilung der Frage, in welchem Umfang die Verfahrensdauer unangemessen war, die Zeiträume außer Betracht bleiben, in denen das Gericht noch keine Entscheidung treffen konnte und in denen es das Verfahren gefördert hat.
Beginn der Berechnung ist der Eingang der Klagebegründung
Nach Eingang der Klagebegründung am 18. August 2020 hätte das VG auf eine zügige Klageerwiderung hinwirken müssen; dies habe es erst nach der zweiten Sachstandsanfrage des Klägers im Februar 2021 getan. Insofern seien fünf Monate anzusetzen, in denen das VG das Verfahren nicht förderte. Der Zeitraum vom Eingang der Klageerwiderung am 19. März 2021 bis zur Replik des Klägers mit Schriftsatz vom 17. Mai 2021 bleibe außer Betracht. Jedenfalls einen Monat nach Eingang der Replik des Klägers Mitte Mai 2021 sei das Verfahren terminierungsreif gewesen. Die Ladung zur mündlichen Verhandlung erfolgte jedoch erst am 29. September 2022. Das VG war aus Sicht des VGH damit insgesamt über einen Zeitraum von ca. 20 Monaten untätig geblieben.
Für die Bemessung der dem Kläger zustehenden Entschädigung sei aber nicht der gesamte Zeitraum von 20 Monaten zugrunde zu legen. Vielmehr müsse dem erstinstanzlichen Gericht ein Gestaltungsspielraum zur Terminierung der mündlichen Verhandlung und für die Absetzung des Urteils eingeräumt werden. Ordnungsgemäß gefördert, hätte das VG nach Eingang der Klagebegründung am 18. August 2020 auf eine Klageerwiderung binnen Monatsfrist hinwirken müssen und das Verfahren im Rahmen seines Gestaltungsspielraums unter Berücksichtigung der durchschnittlichen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache einerseits und der hohen Bedeutung und Dringlichkeit der Angelegenheit für den Kläger innerhalb von zehn Monaten zum Abschluss bringen müssen, sodass dem Kläger eine Entscheidung im Juli 2021 hätte bekannt gegeben werden können. Das Verfahren beim VG wäre dann von Klageeingang beim Verwaltungsgericht München am 17. Juli 2020 nach einem Jahr abgeschlossen gewesen.
Die sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung betrug 16 Monate
Für den Zeitraum vom August 2021 bis November 2022 sei demnach die Verfahrensdauer nicht mehr angemessen gewesen, weil sie sich bei Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalls als sachlich nicht mehr gerechtfertigt und damit als unverhältnismäßig darstellte. Die sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung des Ausgangsverfahrens betrage daher 16 Monate. Diese sei im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung mit Blick auf das Berufungszulassungsverfahren um vier Monate zu reduzieren. Denn der Bayerische VGH habe das Berufungszulassungsverfahren etwa vier Monate früher erledigt, als es dies bei Berücksichtigung des ihm zukommenden Gestaltungsspielraums hätte tun müssen, um das Verfahren im Sinne des § 198 Abs. 1 GVG in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen.
Durch die überlange Verfahrensdauer habe der Kläger einen immateriellen Nachteil erlitten, der nicht auf andere Weise wiedergutgemacht werden konnte. Ist nach den Umständen des Einzelfalls keine Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend, beträgt die Entschädigung 1.200,- Euro für jedes Jahr bzw. 100,- Euro für jeden Monat der Verzögerung, sofern das Gericht nicht aus Billigkeitsgründen einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzt (§ 198 Abs. 2 Satz 2 bis 4, Abs. 4 GVG).
Rechtliche Grundlagen
§ 198 GVG
(1) Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
(2) Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Absatz 4 ausreichend ist. Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen.
(3) Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). Die Verzögerungsrüge kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird; eine Wiederholung der Verzögerungsrüge ist frühestens nach sechs Monaten möglich, außer wenn ausnahmsweise eine kürzere Frist geboten ist. Kommt es für die Verfahrensförderung auf Umstände an, die noch nicht in das Verfahren eingeführt worden sind, muss die Rüge hierauf hinweisen. Anderenfalls werden sie von dem Gericht, das über die Entschädigung zu entscheiden hat (Entschädigungsgericht), bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer nicht berücksichtigt. Verzögert sich das Verfahren bei einem anderen Gericht weiter, bedarf es einer erneuten Verzögerungsrüge.
(4) Wiedergutmachung auf andere Weise ist insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Die Feststellung setzt keinen Antrag voraus. Sie kann in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung ausgesprochen werden; ebenso kann sie ausgesprochen werden, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Absatzes 3 nicht erfüllt sind.
(5) Eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 1 kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. Die Klage muss spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden. Bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage ist der Anspruch nicht übertragbar.
(6) Im Sinne dieser Vorschrift ist
1. ein Gerichtsverfahren jedes Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss einschließlich eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und zur Bewilligung von Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe; ausgenommen ist das Insolvenzverfahren nach dessen Eröffnung; im eröffneten Insolvenzverfahren gilt die Herbeiführung einer Entscheidung als Gerichtsverfahren;
2. ein Verfahrensbeteiligter jede Partei und jeder Beteiligte eines Gerichtsverfahrens mit Ausnahme der Verfassungsorgane, der Träger öffentlicher Verwaltung und sonstiger öffentlicher Stellen, soweit diese nicht in Wahrnehmung eines Selbstverwaltungsrechts an einem Verfahren beteiligt sind.