Die DGB Rechtsschutz GmbH vertritt Gewerkschaftsmitglieder regelmäßig in sozialrechtlichen Verfahren. Wenn es also etwa um Rente, Schwerbehinderung, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten, Hartz IV oder Arbeitslosengeld geht. Wir werden indessen in der Regel zu einem Zeitpunkt aktiv, als bereits eine Menge in den Verfahren geschehen ist. Es gibt bereits einen negativen Bescheid oder sogar schon einen Widerspruchsbescheid.
Kurzum: bei der entsprechenden Behörde oder Versicherungsanstalt hat sich jede Menge Papier angesammelt, das zu einer Akte gebunden wurde. Und in dieser Akte gibt es eine Menge von Informationen, die für das Verfahren von erheblicher Bedeutung sind: Urkunden, medizinische Befunde, Sachverständigengutachten etc.
Ohne Einsicht in die Verwaltungsakte kann man Widerspruch und Klage kaum begründen
Bevor wir einen Widerspruch oder eine Klage begründen können, müssen wir also Akteneinsicht nehmen. Und darauf gibt es auch in der Regel einen Anspruch. Die Behörde hat den Beteiligten Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten zu gestatten, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Das ist in § 25 des ersten Sozialgesetzbuches geregelt.
Das Gesetz hat seit einigen Jahren den Behörden die Möglichkeit eröffnet, Akten in elektronischer Form zu führen. Es liegt im Ermessen der Behörde, ob sie überhaupt noch Akten in Papierform führt. Sie kann dementsprechend Akteneinsicht gewähren, indem sie Unterlagen ganz oder teilweise ausdruckt, elektronische Dokumente auf einem Bildschirm wiedergibt, elektronische Dokumente zur Verfügung stellt oder den elektronischen Zugriff auf den Inhalt der Akte gestattet (§ 25 Abs. 5 S. 2 SGB X).
Man kann Dokumente aus Akten genau bezeichnen, indem man auf die Nummer des Aktenblattes hinweist
Das Sozialgericht Gießen war jetzt mit einem Fall beschäftigt, in dem es darum ging, ob die Aktenblätter der in elektronischer Form übersandten Akte „paginiert“ sein müssen. Behörden nummerieren regelmäßig die Blätter ihrer Akten. Das macht den Vorgang zum einen übersichtlicher. Das gilt insbesondere in sozialrechtlichen Verfahren, in denen Akten häufig mehrere hundert Seiten haben.
Zum anderen kann man Dokumente aus Akten genau bezeichnen, indem man auf die Nummer des Aktenblattes hinweist: „ich verweise auf den Befundbericht des Herrn Dr. Müller vom 30. Mai 2021, Blatt 102 der Akte“. Zuweilen gibt es in Akten auch Dokumente, die sich ohne Angabe der Blattnummer gar nicht eindeutig beschreiben lassen, etwa eine handschriftliche Notiz ohne Angabe des Datums.
Ist eine als PDF übersandte Akte vollständig, wenn in der Datei die Aktenblätter nicht nummeriert sind?
Im vorliegenden Fall hatte ein niedergelassener Zahnarzt mit mehreren Beschäftigten bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) wegen der Gewährung von Kurzarbeitergeld Widerspruch erhoben. Die Prozessbevollmächtigte des Zahnarztes beantragte im Verfahren Akteneinsicht in die vollständigen Verwaltungsvorgänge. Die BA übersandte die Akten auf elektronischem Wege als PDF-Datei. Die einzelnen Aktenblätter enthielten in dieser Datei keine Nummern.
Der Zahnarzt erhob deshalb Klage beim Sozialgericht mit dem Antrag, ihm vollständige Akteneinsicht in die Verwaltungsvorgänge zu gewähren, indem die Agentur für Arbeit eine vollständige Kopie der Akte an die Kanzleiadresse seiner Prozessbevollmächtigten sendet. Das Sozialgericht hat die Klage indessen per Gerichtsbescheid abgewiesen, weil sie unzulässig ist.
Dem Zahnarzt fehle ein Rechtsschutzbedürfnis, so das Sozialgericht Gießen. Das sei Sachentscheidungsvoraussetzung und werde abgeleitet aus dem auch im Prozessrecht geltenden Gebot von Treu und Glauben, dem Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte sowie dem auch für die Gerichte geltenden Grundsatz der Effizienz staatlichen Handelns Ein Kläger müsse ein Mindestmaß an berechtigtem Rechtsverfolgungsinteresse geltend machen können, das dem öffentlichen Interesse an einer effizienten Rechtspflege gegenübergestellt werden könne.
Die Entscheidung, Akten nicht papierhaft zu führen, unterliegt dem Organisationsermessen einer Behörde
Der Zahnarzt verfolge mit seiner Klage allein das Ziel, vollständige Einsicht in die Verwaltungsakten der Agentur für Arbeit zu erhalten. Darauf habe er ohne Zweifel einen Rechtanspruch. Dieses Ziel habe er aber bereits durch die elektronische Übersendung der Verwaltungsakten an seine Prozessbevollmächtigte erreicht.
Die Agentur für Arbeit führe ihre Verwaltungsakten elektronisch in einem Fachverfahren. Diese Entscheidung, die Akten nicht papierhaft zu führen, unterliege ihrem eigenen Organisationsermessen. Im Zuge einer hypothetischen erneuten Akteneinsichtsgewährung erhielte der Zahnarzt identische elektronische Kopien der bereits dem Gericht und sukzessiv seiner Prozessbevollmächtigten übermittelten Dokumente. Dies wäre ein gänzlich redundanter Vorgang.
Eine andere Beurteilung ergebe sich auch nicht aus dem Verlangen nach Paginierung der Akte. Dieses Verlangen sei unbeachtlich. Die Paginierung, also die Seitennummerierung eines Schriftstückes, sei ein Relikt aus der papierhaften Dokumentenbearbeitung, die zwar als Komfortfunktion auch elektronischen Dokumenten technisch hinzugefügt werden könne. Zur Gewährleistung von Aktenwahrheit, Aktenklarheit und Aktenvollständigkeit in der elektronischen Dokumentenbearbeitung sei die Nummerierung aber nicht erforderlich, weil es andere, effektivere und zugleich effizientere Maßnahmen zur Gewährleistung des Gebots ordnungsgemäßer Aktenführung gebe.
Das Sozialgericht sieht keinen Anlass, an die Rechtstreue der Bundesagentur für Arbeit zu zweifeln
Die BA führe gerichtsbekannt ein erprobtes und in Fachkreisen mehrfach transparent vorgestelltes System verlässlicher elektronischer Aktenführung. Zwar stehe außer Frage, dass die gerichtsbekannt nicht statische, sondern dynamische Vergabe von Ordnungsnummern für die einzelnen elektronischen Dokumente im Zuge jeder einzelnen Übersendung ein Einfallstor für missbräuchliche Unterdrückung einzelner Aktenteile darstelle. Die Gerichte könnten nämlich die Vollständigkeit nicht anhand der Lückenlosigkeit solcher Nummern überprüfen.
Bislang sei aber kein Fall bekannt geworden, in dem entweder Aktenteile bei der Arbeitsagentur aufgrund von Fehlern ihrer Fachanwendung versehentlich untergegangen seien noch solche, in denen Bedienstete manuell Teile unterdrückt hätten. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts sei die Bundesagentur für Arbeit an Recht und Gesetz gebunden. Anlass, an ihrer Rechtstreue zu zweifeln und die systematische Vernichtung oder Unterdrückung von Aktenteilen oder solche im vorliegenden Einzelfall durch Bedienstete der Beklagten anzunehmen, hätte das Gericht allenfalls, sofern ein Kläger insoweit substantiierte Anhaltspunkte vortrage. Dies allerdings sei im vorliegenden Fall allerdings nicht erfolgt.
Hier geht es zum Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen:
Rechtliche Grundlagen
§ 25 Sozialgesetzbuch 10 (SGB X) Akteneinsicht durch Beteiligte
§ 25 Sozialgesetzbuch 10 (SGB X)
Akteneinsicht durch Beteiligte
(1) Die Behörde hat den Beteiligten Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten zu gestatten, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Satz 1 gilt bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens nicht für Entwürfe zu Entscheidungen sowie die Arbeiten zu ihrer unmittelbaren Vorbereitung.
(2) Soweit die Akten Angaben über gesundheitliche Verhältnisse eines Beteiligten enthalten, kann die Behörde statt dessen den Inhalt der Akten dem Beteiligten durch einen Arzt vermitteln lassen. Sie soll den Inhalt der Akten durch einen Arzt vermitteln lassen, soweit zu befürchten ist, dass die Akteneinsicht dem Beteiligten einen unverhältnismäßigen Nachteil, insbesondere an der Gesundheit, zufügen würde. Soweit die Akten Angaben enthalten, die die Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit des Beteiligten beeinträchtigen können, gelten die Sätze 1 und 2 mit der Maßgabe entsprechend, dass der Inhalt der Akten auch durch einen Bediensteten der Behörde vermittelt werden kann, der durch Vorbildung sowie Lebens- und Berufserfahrung dazu geeignet und befähigt ist. Das Recht nach Absatz 1 wird nicht beschränkt.
(3) Die Behörde ist zur Gestattung der Akteneinsicht nicht verpflichtet, soweit die Vorgänge wegen der berechtigten Interessen der Beteiligten oder dritter Personen geheim gehalten werden müssen.
(4) Die Akteneinsicht erfolgt bei der Behörde, die die Akten führt. Im Einzelfall kann die Einsicht auch bei einer anderen Behörde oder bei einer diplomatischen oder berufskonsularischen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland im Ausland erfolgen; weitere Ausnahmen kann die Behörde, die die Akten führt, gestatten.
(5) Soweit die Akteneinsicht zu gestatten ist, können die Beteiligten Auszüge oder Abschriften selbst fertigen oder sich Ablichtungen durch die Behörde erteilen lassen. Soweit die Akteneinsicht in eine elektronische Akte zu gestatten ist, kann die Behörde Akteneinsicht gewähren, indem sie Unterlagen ganz oder teilweise ausdruckt, elektronische Dokumente auf einem Bildschirm wiedergibt, elektronische Dokumente zur Verfügung stellt oder den elektronischen Zugriff auf den Inhalt der Akte gestattet. Die Behörde kann Ersatz ihrer Aufwendungen in angemessenem Umfang verlangen.