Auch wenn ein gesetzlicher oder tariflicher Anspruch besteht: der Chef stellt frei. © Adobe Stock - Von Michael Schindler
Auch wenn ein gesetzlicher oder tariflicher Anspruch besteht: der Chef stellt frei. © Adobe Stock - Von Michael Schindler

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung wegen des Vorwurfs eines unentschuldigten Fernbleibens vom Dienst.

Der im Februar 1959 geborene Kläger nahm am 13. April 2015 bei der beklagten Verkehrsgesellschaft eine Beschäftigung als Busfahrer auf. Die Beklagte betreibt verschiedene Buslinien und unterhält außerhalb ihres Hauptsitzes drei Betriebshöfe.

Der Kläger war dem Betriebshof R.-D. zugeordnet, an dem etwa 45 Busse und 55 Fahrer stationiert sind. Dort befindet sich eine Werkstatt mit einem Meister und vier Gesellen. Leiter dieses Betriebshof ist Herr N., dem die Busfahrer fachlich und disziplinarisch unterstellt sind. Herr N. ist auch als Einsatzleiter tätig.

Der Kläger hatte zeitweise den Vorsitz des Betriebsrats inne. Bei der Betriebsratswahl im Jahr 2019 wurde er als Ersatzmitglied gewählt. In dieser Funktion nahm er zuletzt am 29. Januar 2020 an einer Betriebsratssitzung teil. Gegenüber dem Betriebsrat erklärte er, ab dem 11. März 2020 nicht mehr für Betriebsratstätigkeiten zur Verfügung zu stehen.

Kläger wurde als nachrückendes Mitglied zur Tarifkommission gewählt

Im September 2020 verhandelte die Beklagte mit der Gewerkschaft über den Abschluss eines neuen Tarifvertrages zur Anpassung der tariflichen Anwendungsvereinbarung zum Spartentarifvertrag Nahverkehrsbetriebe Mecklenburg-Vorpommern. An den Verhandlungen nahmen regelmäßig jeweils zwei Beschäftigte der einzelnen Betriebshöfe als Mitglieder der Tarifkommission teil. Für den Betriebshof R.-D. sollten nach Abstimmung mit der Gewerkschaft Frau C. G. und Herr H. D. an den Tarifverhandlungen teilnehmen. Frau G. war jedoch zeitweise krankheitsbedingt arbeitsunfähig und konnte deshalb zur Verhandlungsrunde am 16. September 2020 nicht erscheinen.

Am 14. September 2020 rief der Kläger zu einer Gewerkschaftsversammlung auf, bei der er gegen 19:00 Uhr zum nachrückenden Mitglied der Tarifkommission gewählt wurde. Aufgrund dessen beantragte er am darauffolgenden Tag nach Ende des 1. Dienstteils gegen 08:40 Uhr bei dem Einsatzleiter N. eine Freistellung für die Tarifverhandlungen am 16. September 2020. Das lehnte Herr N. unter Hinweis auf einen Mangel an Personal und wegen fehlender gesetzlicher Grundlage ab. Daraufhin fragte der Kläger bei dem Betriebsratsmitglied T. wegen einer Übernahme des 2. Dienstteils an, wozu sich Herr T. grundsätzlich bereit erklärte, allerdings nur bis 15:00 Uhr.

Die Freistellung von Arbeitnehmern für Tarifverhandlungen ist im Tarifvertrag wie folgt geregelt"...

 


§ 14 Sonderurlaub, Arbeitsbefreiung
...

(3) Zur Teilnahme an Tagungen kann den gewählten Vertreter/innen der Bezirksvorstände, des Landesbezirksvorstandes, Gewerkschaftsrates, der Bundesfachbereichs- und der Bundesfachgruppenvorstände auf Anforderung der vertragsschließenden Gewerkschaft Arbeitsbefreiung bis zu sechs Werktagen im Jahr unter Fortzahlung des Arbeitsentgelts ... erteilt werden, sofern nicht dringende betriebliche Interessen entgegenstehen. Zur Teilnahme an Tarifverhandlungen mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände oder ihrer Mitgliedsverbände kann auf Anforderung der vertragsschließenden Gewerkschaft Arbeitsbefreiung unter

Fortzahlung des Arbeitsentgelts ... ohne zeitliche Begrenzung erteilt werden. ..."

Eine Anforderung des Klägers durch die Gewerkschaft für die Verhandlungen am 16. September 2020 lag nicht vor.

 

Eine weitere Regelung zur Freistellung für Tarifverhandlungen findet sich in der "Betriebsvereinbarung zur Lohnzahlung bei persönlicher Arbeitsverhinderung" vom 19.02.2014, in Kraft getreten zum 01.01.2014, die, soweit für den Rechtsstreit von Bedeutung, folgenden Inhalt hat:

"... § 2

1. Jeder Arbeitnehmer darf der Arbeit nur fernbleiben, wenn ihm von seinem Abteilungsleiter hierzu die Ermächtigung erteilt worden ist. Ist das vorherige Einholen einer solchen Ermächtigung aufgrund besonderer Umstände nicht möglich, so ist der zuständige Abteilungsleiter oder Betriebsleiter sobald wie irgend möglich zu unterrichten. ...

3. Bleibt ein arbeitsfähiger Arbeitnehmer der Arbeit fern, so verliert er, sofern nicht dieser Tarifvertrag etwas anderes bestimmt, für diese Zeit den Anspruch auf Lohn.

4. In den nachstehenden Fällen, in denen der Arbeitnehmer für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Arbeitsleistung verhindert ist, wird, soweit nicht bereits gesetzlich geregelt und soweit die Erledigung nicht außerhalb der Arbeitszeit erfolgen kann, Freistellung von der Arbeit unter Fortzahlung des Lohns gewährt: ...

k) zu den Tarifverhandlungen werden die Mitglieder der Tarifkommission für die jeweils notwendige Zeit unter Fortzahlung der durchschnittlichen Bezüge freigestellt. ..."

Antrag des Klägers auf Freistellung erfolglos

Am 16. September 2020 war der Kläger ebenso wie in der gesamten Woche für den Dienst eingeteilt. Dabei handelt es sich um einen geteilten Dienst mit geplanten Dienstzeiten von 05:00 Uhr bis 08:38 Uhr und von 11:29 Uhr bis 16:53 Uhr. In diesem Dienst sind verschiedene Linien zu bedienen, insbesondere sind Schüler zu verschiedenen Schulen zu bringen und dort wieder abzuholen. Nachdem der Kläger am 16. September 2020 den 1. Teil des Dienstes geleistet hatte, wandte er sich wegen einer Freistellung für den 2. Teil an den Leiter des Betriebshofs, der eine Freistellung ablehnte. Daraufhin erklärte der Kläger:

 

"Ich begebe mich jetzt nach C-Stadt zu der Tarifverhandlung."

Nachdem der Leiter des Betriebshofs eindringlich auf die vertragliche Arbeitspflicht des Klägers hingewiesen hatte, verabschiedete sich der Kläger mit den Worten:

"Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Herr N."

Teilnahme an Tarifverhandlung

Der Kläger erschien nicht zum 2. Dienstteil, sondern nahm wie angekündigt an den Tarifverhandlungen teil. Daraufhin übernahm ein Werkstattmechaniker eine Tour, bei der Grundschulkinder zu transportieren waren. Für eine weitere Tour wurden Linien zusammengelegt, sodass dieser Busfahrer den vorgesehenen Linienweg verlassen musste. Im Übrigen fielen Touren ersatzlos aus.

Außerordentliche fristlose Kündigung

Mit Schreiben vom 21.09.2020 hörte die Beklagte den Betriebsrat zu der beabsichtigten außerordentlichen fristlosen Kündigung des Klägers an. Der Betriebsrat widersprach der beabsichtigten Kündigung mit Beschluss vom 23.09.2020. Daraufhin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Busfahrers mit Schreiben vom 24.09.2020, das am Folgetag zuging, außerordentlich mit sofortiger Wirkung.

 

Kündigungsschutzklage erstinstanzlich abgewiesen – Kläger legt Berufung ein

Gegen die außerordentliche Kündigung erhob der Busfahrer Klage beim Arbeitsgericht Stralsund. Mit Urteil vom 17. März 2021 wurde seine Klage abgewiesen, woraufhin der Kläger Berufung beim Landesarbeitsgericht (LAG) Mecklenburg-Vorpommern einlegte.

Landesarbeitsgericht weist Berufung zurück

Mit Urteil vom 23. November 2021 bestätigte das Berufungsgericht die erstinstanzliche Entscheidung. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) wurde nicht zugelassen.

Das zweitinstanzliche Gericht kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei der streitgegenständlichen Kündigung um eine zulässige Maßnahme gehandelt habe. Eigenmächtige Selbstbeurlaubung oder unentschuldigtes Fehlen, so das Gericht,

stellten eine erhebliche Pflichtverletzung dar, die eine außerordentliche Kündigung begründen können.

Kein Recht auf Selbstbeurlaubung

Ein Arbeitnehmer sei auch dann nicht berechtigt, sich selbst zu beurlauben oder freizustellen, wenn er einen Anspruch auf Erteilung von Urlaub oder Freistellung gehabt hätte um z.B. an Tarifverhandlungen teilzunehmen.

Hier finden Sie das vollständige Urteil

Das sagen wir dazu:

Fragliche Entscheidung

Einfach den Arbeitsplatz verlassen in Kenntnis der Voraussetzungen für eine Freistellung, wie diese im Tarifvertrag und einer Betriebsvereinbarung festgeschrieben sind, ist ersichtlich Risikobehaftet. Ob der Kläger tatsächlich die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens erkennen konnte, wie vom LAG angenommen, erscheint doch fraglich. Eine fristlose Kündigung wäre dann nachvollziehbar gewesen, wenn ein vergleichbares Fehlverhalten zuvor schon mal abgemahnt wurde, was aber offenkundig nicht der Fall war.

Im "Notfall" gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen Verweigert der Arbeitgeber die Gewährung einer Freistellung, wie im vorliegenden Fall, um zum Beispiel an Tarifverhandlungen teilzunehmen, könnte es Sinn machen den Anspruch auf Freistellung von der Arbeit im Eilverfahren per einstweiliger Verfügung durch zu setzen.

Rechtliche Grundlagen