Die Frist zur Rücknahme eines Bescheides lässt sich nicht verlängern, auch nicht durch etwaige weitere, aber vermeidbare Ermittlungen. Copyright by Adobe Stock/Wellnhofer Designs
Die Frist zur Rücknahme eines Bescheides lässt sich nicht verlängern, auch nicht durch etwaige weitere, aber vermeidbare Ermittlungen. Copyright by Adobe Stock/Wellnhofer Designs

Es ging um viel Geld. Die Rentenversicherung forderte rund 6500 € von der Klägerin. Das Geld hatte diese auf ihren Rentenantrag hin erhalten. Dabei blieb unberücksichtigt, dass die Klägerin sich vor fast 20 Jahren scheiden ließ. Das Familiengericht setzte damals einen Versorgungsausgleich fest. Die Klägerin erhielt dadurch Anwartschaften bei einer Versorgungsanstalt, in welchem ihr geschiedener Ehegatte Mitglied war.
 

Die Klägerin beantragte bei der Rentenversicherung ihre Altersrente

Im Dezember 2017 beantragte die Klägerin ihre Altersrente. Im selben Monat teilte die Versorgungsanstalt der Rentenversicherung mit, dass es ein Urteil des Familiengerichts mit einem Versorgungsausgleich gebe. Danach solle die Versorgungsanstalt den Versorgungsausgleich vornehmen. Die Rentenversicherung sei nicht zuständig und dürfe die Rente nicht festsetzen.
 
Dennoch bewilligte die Rentenversicherung der Klägerin im nachfolgenden April die Altersrente. Die Versicherung meinte weiter, selbst für den Versorgungsausgleich zuständig zu sein.
 

Die Feststellung der Rente durch die Rentenversicherung war nicht zulässig

Ihren Fehler bemerkte die Rentenversicherung Anfang 2019. Sie hörte die Klägerin an und teilte dieser mit, es sei beabsichtigt, die zu viel gezahlte Altersrente zurückzufordern. Erst im Juli 2019 erhielt die Klägerin den angekündigten Rückforderungsbescheid. Sie sollte über 3000 € zurückzahlen.
 
Die Rentenversicherung verzichtete dabei auf rund 50 Prozent des Betrages, den sie selbst als Überzahlung errechnet hatte. Sie teilte der Klägerin mit, sie habe insofern ihr Ermessen ausgeübt und eigenes Mitverschulden berücksichtigt.
 

Die Klägerin ließ sich durch das DGB Rechtsschutzbüro Freiburg vor dem Sozialgericht vertreten

Auch damit war die Klägerin nicht einverstanden. Sie wandte sich an Vira Domchak vom DGB Rechtsschutzbüro Freiburg. Die Juristin erkannte sofort, dass sie Rentenversicherung mit ihrer Rückforderung viel zu lange gewartet hatte. Sie leitete ein Klageverfahren beim Sozialgericht Freiburg ein und verwies darauf, die Frist für die Rückforderung sei verstrichen. Die Klägerin brauche deshalb nichts mehr zurückzuzahlen.
 
Genauso sah es auch das Sozialgericht. Die beklagte Rentenversicherung habe einen Betrag zurückgefordert, den sie in der Vergangenheit ausgezahlt habe. Das Gesetz sehe vor dass diese Rückforderung nur innerhalb von einem Jahr nach Kenntnis der Tatsachen erfolgen dürfe, die zur Rücknahme berechtigten.
 

Die Klägerin genoss Vertrauensschutz

Betroffene würden aufgrund dessen nach Ablauf eines Jahres Vertrauensschutz erwerben. Das gelte auch für die Klägerin. Sie müsse deshalb mehr als ein Jahr, nachdem die Behörde von allen maßgeblichen Tatsachen Kenntnis erlangt habe, nicht mehr mit einer Rücknahme eines früheren Bescheides rechnen. Die zeitliche Begrenzung der Befugnis zur Rücknahme eines Verwaltungsaktes diene der Rechtssicherheit.
 
Die Jahresfrist beginne zu laufen, wenn der Behörde alle Tatsachen bekannt seien, die zur Aufhebung des Bescheides berechtigten. Wann dies der Fall sei, unterliege nicht der subjektiven Einschätzung der Behörde.
 

Es muss eine hinreichende Informationsgrundlage vorliegen

Die Kenntnis über den Beginn der Jahresfrist bestehe, wenn die Behörde keine vernünftigen, objektiv gerechtfertigten Zweifel an einer hinreichend sicheren Informationsgrundlage habe. Es müsse sich dabei um Informationen über Tatsachen handeln, die für eine Rücknahmeentscheidung notwendig seien.
 
Das Gericht müsse dabei in erster Linie auf den Standpunkt der Behörde abstellen. Diese müsse die erforderliche Gewissheit über die Art und den Umfang der Tatsachen haben, die wichtig für die Entscheidung seien. Habe die Behörde nachweislich bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine sichere Kenntnis gehabt, müsse das Gericht auch dies beachten.
 

Die Kenntnis des Sachbearbeiters reicht aus

Auf die in der Behörde insgesamt vorhandenen Kenntnisse komme es nicht an. Die Kenntnis des*der Bearbeiter*in des Verfahrens oder zumindest der Dienststelle, der die Entscheidung obliege, sei maßgeblich. Die Behörde habe die Jahresfrist nur dann eingehalten, wenn der Aufhebungsbescheid dem Betroffenen innerhalb eines Jahres bekannt gegeben werde.
 
Nach Ablauf der Frist bleibe es bei dem ursprünglichen, positiven Bescheid. Die Behörde könne keine Fristverlängerung erhalten. Sei die Frist abgelaufen, könne sie den Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit nicht mehr zurücknehmen.
 

Die Rentenversicherung hatte bereits mit der Antragstellung ausreichende Kenntnis

Die Beklagte habe bereits im Dezember 2017, kurz nachdem die Klägerin ihre Altersrente beantragt hatte, Kenntnis davon erlangt, dass die Versorgungsanstalt den Versorgungsausgleich vornehmen müsse. Alle notwendigen Informationen hätten der Rentenversicherung zu diesem Zeitpunkt vorgelegen. Dennoch habe sie der Klägerin im April 2018 die Altersrente bewilligt.
 
Die Jahresfrist habe mit dem Erlass des Bescheides vom April 2018 begonnen, als der Rentenbescheid erging. Schon zu diesem Zeitpunkt sei der Beklagten aufgrund der vorliegenden Informationen bekannt gewesen, dass der Bescheid rechtswidrig sei. Gründe dafür, dass diese Informationen nicht berücksichtigt werden konnten, sehe das Gericht nicht. Es sei auch nicht möglich, die Jahresfrist zu verlängern, indem eine Behörde weitere Ermittlungen durchführe, die an sich vermeidbar seien.
 

Der Aufhebungs- und der Rückforderungsbescheid waren rechtswidrig

Der Aufhebungsbescheid und der Rückforderungsbescheid hielten deshalb einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Beklagte habe keinen Anspruch darauf, dass die Klägerin die zu viel erhaltene Altersrente zurückzahlen müsse.

Hier geht es zum Urteil

Das sagen wir dazu:

Im Sozialrecht taucht die Rückforderung bereits bestandskräftig gewordener Bescheide immer wieder auf. Interessant dazu ist folgende Entscheidung:
Witwe verschwieg Wiederheirat und muss 150.000 Euro Witwenrente zurückzahlen
Bewilligt ein Versicherungsträger eine Leistung und hat der*die Betroffene im Vorfeld zutreffende Angaben gemacht, so gewährt das Gesetz grundsätzlich Vertrauensschutz. Dieser Vertrauensschutz führt dazu, dass ein Sozialversicherungsträger, der zu viel gewährte Leistungen zurückfordern möchte, das nur unter ganz eingeschränkten und gesetzlich genau festgelegten Voraussetzungen tun kann.

Dazu gehört die Jahresfrist. Versicherte müssen grundsätzlich darauf vertrauen können, dass sie die Leistungen, die sie nach ihrer Antragstellung erhalten, auch verbrauchen dürfen. Ist das Geld erst einmal weg, kann es im Einzelfall zum finanziellen Ruin führen, wenn alles wieder zurückgezahlt werden müsste, wenn der Versicherungsträger irgendwann später seinen Fehler bemerkt hat.

Da die Versicherten in der Sozialgemeinschaft immer der schwächere Teil sind, ist genau dieser Schutz zwingend geboten. Das mag für die Kasse der Sozialversicherungsträger unter Umständen schlecht sein. Mit umfassender Sorgfalt bei einer Entscheidung ließe sich das aber verhindern.