In diesem Fall erhöhte ein Wirbelsäulenschaden den Grad der Behinderung für die Lungenerkrankung COPD von 40 auf insgesamt 50. Copyright by Adobe Stock/BillionPhotos.com
In diesem Fall erhöhte ein Wirbelsäulenschaden den Grad der Behinderung für die Lungenerkrankung COPD von 40 auf insgesamt 50. Copyright by Adobe Stock/BillionPhotos.com

In der Realität hält sich das Gericht so gut wie immer an die eingeholten Sachverständigengutachten. Beim Sozialgericht Münster lief es in diesem Falle einmal anders. Der vom örtlichen DGB Rechtsschutz vertretene Kläger ist nun als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Dabei war Ergebnis der Gutachten insgesamt ein Grad der Behinderung (GdB) von 40.
 

Änderungsantrag wegen Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands

Der 62-jährige Kläger leidet an einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung, der COPD. Anfang 2019 stellte der Kreis Steinfurt dafür einen GdB von 40 fest. Weitere gesundheitliche Einschränkungen ließ er außen vor. So verblieb es insgesamt bei einem GdB von 40, auch nach einem Widerspruchsverfahren.
 
Mit dem Ziel, einen GdB von mindestens 50 zu erhalten, entschloss sich der Kläger zu einer Klage beim Sozialgericht Münster.
 

Eine Behinderung ab einem GdB von 50 gilt als Schwerbehinderung

Deshalb ist der Sprung von einem GdB von 40 auf einen von 50 meist eine schwer zu überwindende Hürde. Hier war zu entscheiden, ob sich der Gesundheitszustand des Klägers so wesentlich geändert hat, dass der Gesamt-GdB zu erhöhen ist.
 
Beim Kläger liegt neben der COPD ein Wirbelsäulenschaden vor. Ein solcher ist mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt mit einem GdB von 20 zu bewerten.
 

Die einzelnen Werte bilden den Gesamt-GdB

Jedoch wird hier nicht addiert. Und weitere Funktionsstörungen erhöhen den Gesamt-GdB nicht automatisch.
 
Ausgangspunkt ist die führende Behinderung, hier also die COPD. Sodann ist zu schauen, ob und wie sich durch weitere Beeinträchtigungen das Ausmaß der Behinderung vergrößert.
 

Die Vorsitzende Richterin holte Sachverständigengutachten ein

Im März 2020 erstellte ein vom Gericht bestellter Orthopäde und Unfallchirurg ein Gutachten, nachdem er den Kläger untersucht hatte. Trotz einer Verschlechterung des Gesundheitszustands sei der Gesamt-GdB weiterhin mit 40 zu bewerten, so das Ergebnis.
 
Das Gericht muss der Anregung des Gutachters nicht folgen. Es hat die einzelnen Behinderungen zu betrachten und daraus den Gesamt-GdB zu ermitteln. Bei seiner Einschätzung kann das Gericht auch auf allgemeine Erfahrungsgrundsätze zurückgreifen.
 

Verhandlungstermin trotz „negativen“ Gutachtens

Da der Gutachter angeregt hatte, beim Kläger unverändert einen GdB von 40 festzustellen, hätte das Gericht eine Rücknahme der Klage anregen können. So ist der übliche Ablauf. Es kam aber im Mai 2020 zu einer mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Münster.
 
Die Kammer, die Vorsitzende Richterin und zwei Ehrenamtliche Richter, würdigte in der Verhandlung das Gesamtergebnis der Beweiserhebung. Dem eingeholten Gutachten schloss sie sich weitestgehend an. Aber eben nur weitestgehend. Aus dem GdB von 40 für die COPD und dem GdB von 20 für das Wirbelsäulenleiden bildete die Kammer einen Gesamt-GdB von 50.
 

Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen überschneiden sich nicht

Die Lungenerkrankung und das Wirbelsäulenleiden wirken sich unabhängig voneinander aus. Das war auch der Grund, warum der Gutachter den GdB von insgesamt 40 vorschlug. Die Frage, ob in solchen Fällen der Gesamt-GdB zu erhöhen ist, wird in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich beantwortet. Ein Ansatz ist der, darauf abzustellen, ob die Behinderungen verschiedene Bereiche im täglichen Leben beeinträchtigen.
 
Die Richter*innen beim Sozialgericht entschieden sich hier nicht grundsätzlich für eine Meinung. Vielmehr komme es auf eine Gesamtbetrachtung an, die alle individuellen Gegebenheiten berücksichtige.
 

Abweichende tatrichterliche Einschätzung

Der Kläger ist durch die COPD bei körperlicher Belastung stark eingeschränkt. Nach Auffassung der Kammer verschlechtert die unabhängig von den Folgen der Lungenerkrankung bestehende Schmerzsituation der Wirbelsäule die Teilhabemöglichkeit des Klägers noch zusätzlich.
 
Deshalb kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Wirbelsäulenschaden den GdB insgesamt erhöht. Es verurteilte den Kreis Steinfurt dazu, bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.  
 
Das Urteil ist rechtskräftig.     
 
 
LINKS:
Das Urteil des Sozialgerichts Münster ist im Volltext hier nachzulesen.
 
Allgemeine Infos gibt es in unserem Ratgeber: „Wie berechnet sich mein Grad der Behinderung?“

Lesenswert zum Thema „Schwerbehinderung in der Gesamtschau“ ist das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 06.01.2020 - L 11 SB 177/17.