Das Gericht schaute sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt genau an.
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Das Gericht schaute sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt genau an. © Adobe Stock - MQ-Illustrations

Die 1966 geborene Klägerin bezog von 2005 bis 2007 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung sowie ab 2007 eine unbefristete Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.

 

Ihr letztes Arbeitsverhältnis endete formal zu Ende März 2023, wobei sie ab Januar 2020 durchgehend arbeitsunfähig und seit Ende Juli 2021 arbeitslos gemeldet war. Das Arbeitslosengeld lief im April 2023 aus.

Schon im Januar 2021 hatte die Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung beantragt.

 

Leistungsvermögen von 3 bis unter 6 Stunden täglich

 

Aufgrund verschiedener Erkrankungen psychischer und orthopädischer Art stellte die Rentenversicherung ein gemindertes Leistungsvermögen fest. Eine Rente wegen voller Erwerbsminderung lehnte sie ab, weil die Frau nicht voll erwerbsgemindert sei und ihr ein Arbeitsplatz zur Verfügung stehe.

 

Nach einer medizinischen Rehabilitation im Sommer 2022 verblieb es bei der Einschätzung, dass die Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt drei bis unter sechs Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann.

 

Nach erfolglosem Widerspruch kam es zur Klage beim Sozialgericht Rostock. Die Klägerin teilt die Einschätzung zum Restleistungsvermögen nicht. Sie leide insbesondere in orthopädische Hinsicht unter zahlreichen Funktionseinschränkungen, die es unmöglich machten, einer Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert auch nur für drei Stunden täglich nachzugehen. Zudem bestehe eine depressive Störung verbunden mit einer Schmerzstörung.

 

Kein Vergleich über volle Rente auf Zeit

 

Im Laufe des Verfahrens war die Rentenversicherung bereit, der Klägerin eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Oktober 2023 zu gewähren. Man ging weiter davon aus, dass das Leistungsvermögen der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit drei bis unter sechs Stunden täglich einzustufen ist. Da das letzte Arbeitsverhältnis zu Ende März 2023 beendet wurde, sei nunmehr der Teilzeit-Arbeitsmarkt verschlossen und die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung schlage in eine Rente wegen voller Erwerbsminderung durch.

 

Die Klägerin nahm diesen Vergleichsvorschlag nicht an, weil das Arbeitslosengeld nur bis Anfang April zu zahlen war und sie bis Oktober nur mit der teilweisen Erwerbsminderungsrente hätte auskommen müssen.

 

Gericht spricht eine volle Rente wegen Erwerbsminderung zu

 

Dabei geht es auch davon aus, dass eine Leistungsfähigkeit von mehr als drei bis unter sechs Stunden vorliegt, womit erst einmal nur die Voraussetzungen für eine teilweise Erwerbsminderung erfüllt sind.

 

Das Gericht nahm aber eine genaue Betrachtungsweise vor, bei der die konkrete Arbeitsmarktsituation zu berücksichtigen ist, so dass die teilweise Erwerbsminderung, wenn der allgemeine Arbeitsmarkt verschlossen ist, in eine volle Erwerbsminderung "durchschlägt".

 

Ein Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung bestehe jedenfalls ab dem im Antrag begehrten Zeitpunkt am 01.04.2023.

 

Grundsätze des BSG zum verschlossenen Arbeitsmarkt

1. Für die Beurteilung, ob Versicherte, die aufgrund ihres Gesundheitszustandes nur noch Teilzeitarbeit verrichten können, erwerbsgemindert sind, ist es erheblich, dass für die in Betracht kommenden Erwerbstätigkeiten Arbeitsplätze vorhanden sind, die die Versicherten mit ihren Kräften und Fähigkeiten noch ausfüllen können.

2. Versicherte dürfen auf Tätigkeiten für Teilzeitarbeit nicht verwiesen werden, wenn ihnen für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist.

3. Versicherten ist der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, wenn ihnen weder der Rentenversicherungsträger noch die zuständige Arbeitsagentur innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrages einen in Betracht kommenden Arbeitsplatz anbieten können.

4. Versicherte dürfen in der Regel nur auf Teilzeitarbeitsplätze verwiesen werden, die sie täglich von ihrer Wohnung aus erreichen können.

 

Bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage könne im Regelfall ohne weitere Ermittlungen davon

ausgegangen werden, dass eine Vermittlung innerhalb der Jahresfrist nicht möglich ist, so das Gericht.

Und bei rückwirkender Prüfung der Arbeitsmarktlage bedürfe es daher grundsätzlich keines

Nachweises konkreter Vermittlungsbemühungen für die Dauer eines Jahres durch den

Rentenversicherungsträger im Zusammenwirken mit der Arbeitsagentur.

 

Für die Klägerin gibt es keinen geeigneten Teilzeitarbeitsplatz

 

Da die Klägerin jedenfalls ab dem 01.04.2023 tatsächlich weder einen geeigneten Teilzeitarbeitsplatz innehabe noch ihr ein solcher angeboten wurde, schlage die teilweise Erwerbsminderung wegen der Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes in eine volle Erwerbsminderung um.

 

Dabei war das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin bereits seit 2005 wegen ihrer gesundheitlichen Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch einer Erwerbstätigkeit von drei bis unter sechs Stunden nachgehen konnte.

 

Volle Rente wegen Erwerbsminderung ist ab April 2023 zu leisten

 

Auf die Frage, ob die teilweise Erwerbsminderung auch schon vor April 2023 in eine volle Erwerbsminderung durchschlage, weil die Klägerin nur noch formal in einem Arbeitsverhältnis als „leere Hülle" stand und ihr ein aktiver Arbeitsplatz, an dem sie tatsächlich gearbeitet und Einkommen erzielt hat, nicht zur Verfügung stand, komme es hier nicht an.

 

Denn der Beginn der Rente wegen voller Erwerbsminderung sei antragsgemäß auf den 01.04.2023 festzusetzen, weil die Erwerbsminderung bei der Klägerin bereits im Jahr 2005 eingetreten ist. Eine Rechtsgrundlage dafür, für den Rentenbeginn an den Zeitpunkt des Beginns der Verschlossenheit des Teilzeit-Arbeitsmarktes anzuknüpfen - wie es offenbar dem Vergleichsvorschlag der Rentenversicherung zu Grunde lag - sei nicht ersichtlich.

Das sagen wir dazu:

Christin Prochnow vom DGB Rechtsschutz Rostock hat die Klägerin im Verfahren vertreten.

Der Richter habe in der mündlichen Verhandlung deutlich gemacht, dass die Annahme der Rentenversicherung, die Rente sei erst ab dem 7. Monat nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu gewähren, nicht korrekt sei. Er stellte auf die fehlende Leistungsfähigkeit unter 6 Stunden bereits seit langer Zeit ab. So konnte für die Klägerin die volle Rente ab Antragstellung und nicht erst ein halbes Jahr später erstritten werden.

 

Das Urteil ist rechtskräftig.