Die Vorstellung, dass der Akku leer ist, kann Krankheitswert haben
Copyright: @Adobe Stock – Parradee
Die Vorstellung, dass der Akku leer ist, kann Krankheitswert haben Copyright: @Adobe Stock – Parradee

Viele Jahre war der Kläger als Busfahrer tätig, bis er fahrdienstuntauglich wurde. Ab 2015 wurde er mit einfachen Tätigkeiten be­schäftigt, wie Unterlagen zu vervielfältigen und Arbeiten am Computer zu erledigen.

Ende Juni 2019 erlitt er auf dem Weg zur Arbeit einen Unfall mit dem Fahrrad. Die zuständige Berufsgenossenschaft stellte eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % fest.

 

Im März 2021 beantragte der Kläger bei seiner Rentenversicherung eine Rente wegen Erwerbsminderung. Der Antrag wurde abgelehnt und es folgten Widerspruch und Klage durch den DGB Rechtsschutz Berlin.

 

Aufklärung des medizinischen Sachverhalts

 

Das Sozialgericht holte, wie es in Rentenverfahren üblich ist, ärztliche Befundberichte ein und ließ den Kläger durch einen Arzt für Innere Medizin und psychotherapeutische Medizin begutachten. Der Sachverständige stellte eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung sowie eine rezidivierende depressive Störung unterschiedlicher Ausprägung fest sowie einen Zustand nach Wirbelkörperfakturen. Er kam zu einer sozialmedizinischen Leistungseinschätzung, wonach das Leistungsvermögen des Klägers auf drei bis unter sechs Stunden pro Tag gesunken sei und qualitative Einschränkungen aufweise, eine Verbesserung der gesundheitlichen Verhältnisse aber möglich sei.

 

Seiner Einschätzung nach habe der Kläger die nicht durch objektive Verhältnisse gestützte Vorstellung, nicht mehr erwerbsfähig zu sein. Diese Vorstellung habe Krankheitswert. Er könne sich zwar nicht allein, aber mit fremder Hilfe, insbesondere einer ambulanten Psychotherapie bzw. einer stationären schmerztherapeutischen/psychosomatischen Behandlung davon lösen.

 

Teilanerkenntnis auf befristete Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung

 

Die Rentenversicherung gab daraufhin im Verfahren ein Teilanerkenntnis ab. Sie erkannte eine teilweise Erwerbsminderung ab Ende Juli 2019 an und verpflichtete sich, für die Zeit vom 1. März 2021 bis zum 29. April 2024 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu leisten.

 

Renten wegen Erwerbsminderung werden grundsätzlich befristet und beginnen frühestens mit dem siebten Kalendermonat nach Eintritt der Erwerbsminderung.

 

Der Kläger nahm dieses Teilanerkenntnis an, der Rechtsstreit ging aber weiter mit dem Ziel einer Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise einer unbefristeten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.

 

Die Rentenversicherung war zu weiteren Eingeständnissen nicht bereit und meinte, die Fehlvorstellung des Klägers über sein Leistungsvermögen könne den Leistungsfall nicht begründen.

 

Volle Erwerbsminderung trotz Leistungsvermögen von über 3 Stunden

 

Das Sozialgericht verurteilte die Rentenversicherung dazu, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Januar 2023 bis zum 30. April 2024 zu gewähren. Ein Anspruch auf eine Rente auf Dauer bestehe nicht.

 

Dabei ging das Gericht nicht davon aus, dass das Leistungsvermögen des Klägers auf weniger als drei Stunden pro Tag herabgesetzt ist. Der Kläger habe ein Restleistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden. Sein Leistungsvermögen weise zwar qualitative Einschränkungen auf, doch gingen

diese weder allein noch in ihrer Summe so weit, dass es ihm unmöglich wäre, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Auch seine letzte Tätigkeit könne er noch ausüben.

 

Hier kommt das große Aber, wo das Gericht der Einschätzung der Rentenversicherung widerspricht. Eine Aufhebung des Leistungsvermögens des Klägers ergebe sich dadurch, dass er die nicht durch objektive Befunde gestützte Vorstellung - also eine Fehlvorstellung – habe, nicht mehr erwerbstätig sein zu können, diese Vorstellung Krankheitswert habe und der Kläger sich von ihr nicht ohne ärztliche Hilfe lösen könne.

 

Vorstellung des Klägers, gar nicht mehr erwerbsfähig zu sein, hat Krankheitswert

 

Das Gericht berief sich auf Rechtsprechung, wonach krankheitswertige Fehlvorstellungen über die eigene Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben den Leistungsfall begründen können. Zweifelsfrei bestehe beim Kläger ein solches Leistungsvermögen, was sich im Verfahren, insbesondere durch das Gutachten des gericht­lichen Sachverständigen ergeben habe.

 

Der Sachverständige habe auch ausgeführt, dass der Kläger sich nicht aus eigener Kraft von der Fehlvorstellung befreien könne, sondern er der ärztlichen und therapeutischen Hilfe bedarf, nämlich durch eine Fortsetzung der ambulanten Psychotherapie bzw. durch eine stationäre schmerztherapeutisch/psychosomatische Klinikbehandlung. Damit befinde sich der Kläger in einem Zustand, der ihn an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, und zwar auch an einer solchen, die die genannten quantitativen und qualitativen Leistungseinschränkungen berücksichtigt, hindere bzw. hemme.

 

Auch habe der Sachverständige überzeugend dargelegt, dass das Leistungsvermögen des Klägers, insbesondere das Durchhaltevermögen erheblich reduziert sei, die Schmerzkrankheit den Lebenslauf und die Lebensplanung aber noch nicht soweit übernommen habe, dass eine teilweise Überwindbarkeit nicht mehr möglich erscheine. Er habe insbesondere auch überzeugend begründet, warum die Vorstellung des Klägers, gar nicht mehr erwerbsfähig zu sein, Krankheitswert habe.

 

Rente wird vom 1. Januar 2023 bis zum 30. April 2024 befristet

Nach dem Gericht ist die Rente schon deshalb zu befristen, weil der Kläger sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme von der krankhaften Fehlvorstellung hinsichtlich seiner Erwerbsfähigkeit durch ärztliche und therapeutische Behandlung lösen könne.

 

Dabei geht das Gericht von einem Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung am 3. Juni 2002 aus, im Termin beim gerichtlichen Sachverständigen. Erstmals in dieser Untersuchung und der Begutachtung sei die Frage der krankheitswertigen Fehlvorstellung aufgeworfen worden.

 

Bei der Befristung berücksichtigte das Gericht, dass für psychotherapeutische Behandlungen Wartezeiten bestehen.

 

 

Da nach den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Besserungsaussichten bestünden, sei auch die bereits gewährte Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung auf Dauer zuzusprechen.