Das Landessozialgericht Baden-Württemberg sprach einem contergangeschädigten Kläger eine Rente wegen Erwerbsminderung zu, weil dieser nicht in der Lage sei, im geforderten Umfang unter den Gegebenheiten des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig zu sein.
Eigenständiger Toilettengang nicht möglich
Der Kläger hatte aufgrund einer Conterganschädigung stark verkürzte Arme mit rudimentär angelegten Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenken sowie jeweils nur drei bzw. vier Finger an den Händen.
Der gelernte Nachrichtengerätemechaniker hatte diverse Tätigkeiten ausgeübt, war aber im Jahre 1999 aus einer Reha wegen fehlender Ausdauerbelastbarkeit arbeitsunfähig entlassen worden und hatte daraufhin einen Rentenantrag gestellt.
Diesen begründete er unter anderem damit, dass er aufgrund seiner eingeschränkten Greifmöglichkeit nicht in der Lage sei, während der Arbeit eigenständig die Toilette aufzusuchen. Zu Hause helfe ihm seine Ehefrau beim Öffnen der Hose, außerdem könne er dort eine Jogginghose mit Gummizug tragen.
Tätigkeit als Pförtner zumutbar?
Dagegen behauptete die beklagte Rentenversicherung, der Kläger könne trotz der bestehenden Einschränkungen noch mindestens sechs Stunden unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein.
Als Beispiel für eine mögliche Tätigkeit nannte sie die Beschäftigung in einem Call-Center (mit Headset), als Museumsaufsicht oder als Pförtner an einer Nebenpforte. Dem widersprach bereits das Sozialgericht: Die Tätigkeit als Pförtner lasse sich nicht mit der spezifischen Leistungsbehinderung des Klägers vereinbaren.
Die Tätigkeit eines Pförtners sei auch deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger aufgrund der Verkürzung seiner Arme seine Hose nicht allein öffnen und schließen könne; auch zur Entgegennahme von Schriftstücken oder Gegenständen benötige er Hilfe.
Landessozialgericht: Kläger von Beginn an erwerbsgemindert
Das Tragen einer Jogginghose, wodurch er den Toilettengang selbstständig ausführen könnte, verbiete sich, weil er Pförtner ein gewisses äußeres Erscheinungsbild zu wahren habe. Auch könne man vom Kläger nicht erwarten, einen Arbeitstag als Pförtner mit einer Dauer von mindestens sechs Stunden ohne Aufsuchen einer Toilette zu bestreiten.
Da er hierfür aber eine Hilfsperson benötige, sei er unter arbeitsmarktüblichen Bedingungen nicht einsetzbar. Ihm stehe daher eine Erwerbsminderungsrente zu. Dieser Einschätzung schloss sich das Landessozialgericht an.
Dabei ging das Landessozialgericht davon aus, dass der Kläger zu keinem Zeitpunkt erwerbsfähig gewesen sei, selbst wenn man behindertenspezifische Förderungsmöglichkeiten berücksichtige. Dem Kläger stehe daher ein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente zu.
Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. August 2011 - AZ.: L 13 R 5780/09 hier im Volltext
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Das sagen wir dazu:
Die Hürden für eine Rente wegen voller Erwerbsminderung sind hoch: Um sie zu bekommen, darf der Antragsteller nicht mehr in der Lage sein, drei oder mehr Stunden unter den Gegebenheiten des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig zu sein.
Dabei ist die Rentenversicherung durchaus findig, wenn es darum geht, Tätigkeiten zu finden, die selbst Menschen mit geringem Leistungsvermögen noch bewerkstelligen können. Wobei sich dieses „finden“ nicht darauf bezieht, dem Antragsteller tatsächlich eine Beschäftigung zu verschaffen.
Es geht lediglich um eine theoretische Möglichkeit, also um die Frage, ob eine solche Tätigkeit grundsätzlich möglich wäre. Nur so erklären sich Tätigkeitsvorschläge wie Call-Center-Mitarbeiter, Museumsaufsicht oder Pförtner an einer Nebenpforte.
Denn unabhängig davon, ob der Antragsteller die Tätigkeiten ausüben könnte stellt sich schon die Frage, wie er einen solchen Job erhalten soll. Die Call-Center sitzen heute in Asien, die Museen werden videoüberwacht und besetzte Nebenpforten gibt es nur noch in Rentenversicherungsschreiben.
Insofern war die Einschränkung, nicht selbstständig die Toilette aufsuchen zu können, eine so erhebliche Hürde, dass er schlicht zum Ausschluss von allen Tätigkeiten führt, die man nicht in einer Jogginghose verrichten kann.
Aber auch wenn der Prozessausgang in diesem Fall für den Kläger erfreulich ist: Es wäre ihm sicher mehr geholfen, wenn man ihn nicht mit einer Rente versorgt hätte, sondern tatsächlich eine Erwerbstätigkeit gefunden hätte, zumal sich seine Einschränkung nicht auf die Arbeit selbst, sondern nur auf eine „Begleiterscheinung“ bezog.
Rechtliche Grundlagen
§ 43 SGB VI Rente wegen Erwerbsminderung - Sozialgesetzbuch (SGB VI) Sechstes Buch Gesetzliche Rentenversicherung
§ 43 Rente wegen Erwerbsminderung
(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1. teilweise erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
(2) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1. voll erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Voll erwerbsgemindert sind auch
1. Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und
2. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
(3) Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
(4) Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich um folgende Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind:
1. Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit,
2. Berücksichtigungszeiten,
3. Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nummer 1 oder 2 liegt,
4. Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung.
(5) Eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit ist nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist.
(6) Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren und seitdem ununterbrochen voll erwerbsgemindert sind, haben Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie die Wartezeit von 20 Jahren erfüllt haben.
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