Eine gesunde Sehne kann bei maximaler Muskelanspannung zerreißen. © Adobe Stock: Crystal light
Eine gesunde Sehne kann bei maximaler Muskelanspannung zerreißen. © Adobe Stock: Crystal light

80 kg schwer, zwei Meter hoch und 60 cm breit war der Schrank, den der Kläger zusammen mit zwei Kollegen im Keller einer Werkstatt transportieren musste. Zuerst schoben sie den Schrank. Der musste dann jedoch gekippt werden, um ihn unter Versorgungsrohren durchzuschieben. Der Kläger fing dessen Gewicht während des Kippvorgangs mit beiden Händen oben ab. Das untere Ende des Schrankes stand dabei noch am Boden. Seine Kollegen hoben den Schrank an den Ecken unten an. In dem Moment konnte der Kläger das Gewicht mit den Händen über Kopf jedoch nicht mehr halten, musste die Hände umdrehen und den Schrank auf Höhe des Bauches abfangen.

 

Der unmittelbar auftretende Schmerz führte zur Einstellung der Arbeit

 

Der Mann gab an, die Unterarme hätten dabei 90° zu seinem Bauch gestanden. Zuletzt habe er den Schrank nur noch mit der rechten Hand gehalten und dabei einen Schmerz verspürt. Seine Arbeit konnte er nicht mehr weiter ausführen. Später stellte sich heraus, dass es zu einer Ruptur der Bizepssehne gekommen war. Im Anschluss an die Unfallmeldung des Klägers zog die BG ärztliche Befunde und Gutachten ein. Darin kam es zu unterschiedlichen Bewertungen des Ereignisses und letztlich zur Ablehnung der BG.

 

Ein Arbeitsunfall könne nicht anerkannt werden, heißt es im Bescheid. Durch reine Muskelkraft wie der Kläger sie habe aufbringen müssen, könne niemals eine Sehne reißen. Ein Muskel könne nicht so viel Kraft aufbringen. Die BG ging außerdem davon aus, dass beim Schieben bzw. Kippen des Schrankes die Bizepsmuskulatur nicht maximal angespannt gewesen war. Sie verweist darauf, der Kläger habe nur „nachgefasst“. Dabei soll sich die Muskulatur im Moment des Auffangens angespannt, dann aber wieder in ihrer Anspannung nachgelassen haben. Mit diesem Nachlassen federe die Muskelanspannung quasi die Bewegung ab. Ein derartiger Mechanismus entspreche dem Bauplan des Körpers.

 

Doris Müller aus dem DGB Rechtsschutzbüro Augsburg hielt dagegen

 

Sie machten vor dem Sozialgericht die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall geltend. Das Gericht prüfte den Unfallhergang ganz genau und zog ein medizinisches Gutachten zu der Frage bei, ob bei dem vom Kläger geschilderten Unfallhergang eine gesunde Sehne zerreißen kann. Die Antwort des Gutachters lautete: ja, sie kann.

 

Zunächst einmal ließen sich nach einem Röntgen des Armes keine dem Alter vorauseilenden Vorschäden an der Sehne finden. Der Mann hatte die Arbeit auch sofort eingestellt, was dem Gericht als Nachweis dafür diente, dass die Verletzung im Rahmen der versicherten Tätigkeit des Klägers aufgetreten war.

 

Das Gericht gelangte aber auch zu der Auffassung, dass der vom Kläger geschilderte Unfallhergang, den auch die Beklagte während des Verfahrens in seinem Ablauf nicht bestritten hatte, geeignet war, die Bizepssehne zerreißen zu lassen. Von einem geeigneten Mechanismus zum Zerreißen der Bizepssehne sei auszugehen, wenn eine unphysiologische und damit gefährdende Belastung in der Weise auftritt, dass sie überfallartig die muskulär gespannte Struktur trifft und/oder diese beansprucht.

 

Eine überfallartige Überbeanspruchung kann die Sehne zerreißen

 

Eine solche überfallartige Überbeanspruchung sei plausibel, wenn sie durch äußere Umstände aufgezwungen werde. Grundsätzlich würden nämlich die Grenzen der physiologischen Belastbarkeit in aller Regel instinktiv eingehalten. Der Mensch verhalte sich normalerweise im Rahmen seiner Belastungsgrenzen. Diese würden aber dann verlassen, wenn äußere Umstände passiv einwirkten oder eine Gefahr für Leib oder Leben („letzte Kraft") eine Überforderung abverlangten.

 

Genau das nahm das Sozialgericht im Fall des Klägers an. Der 2 m hohe und ca. 80 kg schwere Schrank sei unerwartet während des Tragevorgangs ins Rutschen gekommen und der Kläger habe versucht, den Schrank zu halten. Der Muskulatur des Klägers war damit überfallartig eine abnorme Belastung aufgezwungen worden. Soweit die Beklagte meinte, dass die Bizepsmuskulatur nicht maximal angespannt gewesen sei und die Anspannung der Muskulatur erst im Moment des Auffangens eintrat, überzeugte dies das Gericht nicht.

 

Vielmehr gingen die Richter:innen angesichts der Schwere des Schranks und seiner Größe davon aus, dass die Muskulatur des Klägers bereits durch Anheben des Schrankes maximal angespannt war und aufgrund des Auffangreflexes durch den Kläger sozusagen mit „letzter Kraft" versucht wurde, den Schrank noch zu halten. Das habe zu einer abnormen Belastung der Bizepsmuskulatur geführt.

 

Das Gericht gab der Klage statt

 

Genau dieser Mechanismus sei geeignet eine gesunde Bizepssehne zum Zerreißen zu bringen. Für die Zusammenhangsfrage sei dabei nicht erheblich, ob möglicherweise einzelne Sehnenzüge noch intakt geblieben sind. Das hatte die Beklagte dem Anspruch des Klägers entgegen gehalten.

 

Das Gericht verurteilte die Beklagte zur Anerkennung des Unfallereignisses. Die BG muss nun in die weitere medizinische Beweiserhebung zu der Frage eintreten, ob und in welcher Höhe eine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit anzuerkennen ist.