Versehentlich zu stark gebremst und die Probleme nahmen ihren Lauf. © Adobe Stock: Mustafa
Versehentlich zu stark gebremst und die Probleme nahmen ihren Lauf. © Adobe Stock: Mustafa

Der 1964 geborene Kläger erlitt am 10. März 2022 einen Unfall, als er auf dem direkten Weg vom Einkauf des Mittagsessens zurück zum Arbeitsplatz mit dem Fahrrad stürzte. Er gab an, dass er am Unfalltag im Homeoffice gewesen sei und in der Mittagspause eine Mahlzeit (Leberkässemmel und Eintopf) in der nahen Metzgerei zum Verzehr im Homeoffice besorgen wollte. Der Unfall sei auf dem Rückweg passiert; wegen am rechten Fahrbahnrand geparkter Fahrzeuge und des Gegenverkehrs habe er abbremsen müssen, versehentlich zu stark die Vorderradbremse betätigt und sei dabei über den Lenker gestürzt.

 

Die BG lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalles ab

 

Die Berufsgenossenschaft unterschied in ihrem ablehnenden Bescheid zwischen Betriebsstätte und Homeoffice. Einen Unfall könne sie nur anerkennen, wenn er sich in Verbindung mit der Betriebsstätte ereigne. Das sei im Homeoffice nicht der Fall.

 

Nachdem auch der Widerspruch erfolglos geblieben war, erhoben die Jurist:innen vom DGB Rechtsschutz München Klage beim Sozialgericht. Das gab dem Betroffenen nun recht und setzte sich in seiner Entscheidung insbesondere mit den Auswirkungen einer zunehmend digitalisierten Welt auf die Betriebsstätte auseinander.

 

Das Gesetz regelt die Voraussetzungen für Arbeitsunfälle in § 8 SGB VII

 

Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer versicherten Tätigkeit. Dabei ist ein Unfall nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis, das zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod geführt hat.

 

Ein Arbeitsunfall setzt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts voraus, dass Verletzte durch eine Verrichtung vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt haben und deshalb "Versicherte" sind.

 

Nachgewiesen müssen die versicherte Tätigkeit und das Unfallereignis sein. Für den Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit. Der Fahrradunfall und eine schwere Fraktur am Unterarm standen im Fall des Klägers zweifelsfrei fest.

 

War der Weg zum Metzger eine versicherte Tätigkeit?

 

Im Fall des Klägers kam es auf die Beantwortung der Frage an, ob er zum Zeitpunkt des Unfallereignisses eine versicherte Tätigkeit verrichtet hatte. Wegeunfälle stehen unter Versicherungsschutz, zumindest sofern sie den Hinweg zur und den Rückweg von der Arbeit betreffen.

 

Grundsätzlich gilt für das Homeoffice nichts anderes, stellt das Sozialgericht München im Fall des Klägers fest. Nach § 8 Abs. 1 Satz 3 SGB VII bestehe Versicherungsschutz in gleichem Umfang wie bei Ausübung der Tätigkeit auf der Unternehmensstätte, wenn die versicherte Tätigkeit im Haushalt der Versicherten oder an einem anderen Ort ausgeübt werde. Aus dem Wortlaut und der Systematik der Vorschrift sowie dem Willen des Gesetzgebers ergebe sich, dass der Betriebsweg im eigenen Haushalt oder bei einem anderen Tätigkeitsort versichert sei. Das habe das Bundessozialgericht (BSG) 2021 so entschieden.

 

Der Gesetzeswortlaut ist auszulegen

 

Die Gleichheit des Versicherungsschutzes beim Homeoffice und der Betriebsstätte ist nach dem Urteil des BSG vom 8. Dezember 2021 ausdrücklich allein in Bezug auf die Ausübung der Tätigkeit „auf" und nicht „nach“ und „von der“ Unternehmensstätte geregelt. Deshalb kann nach dem Gesetz hier zunächst nur der Betriebsweg und damit beim Homeoffice auch nur der Weg innerhalb der Wohnung erfasst sein.

 

Schließlich ist auch der Gesetzesbegründung detailliert zu entnehmen, dass mit der Vorschrift „Wege im eigenen Haushalt" gemeint sind, so das BSG weiter. Weil dort auch konkrete Beispiele für diese entsprechende Gleichbehandlung beim Versicherungsschutz genannt werden, soll kein Redaktionsversehen anzunehmen sein.

 

Für den Fall des Klägers sei damit maßgeblich, ob der Pausenweg zum Holen bzw. Bringen von Nahrungsmitteln für den Verzehr in der Mittagspause ein mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängender unmittelbarer Weg ist. Das bejaht das Sozialgericht.

 

Wege zum Einkauf von Nahrung können versichert sein

 

Wege vom Betriebsgelände zum Ort der Nahrungsmittelbeschaffung bzw. Nahrungsaufnahme seien nach der Rechtsprechung des BSG grundsätzlich versichert, denn es bestehe eine Notwendigkeit, persönlich im Beschäftigungsbetrieb anwesend zu sein und dort betriebliche Tätigkeiten zu verrichten. Die beabsichtigte Nahrungsaufnahme während der Arbeitszeit diene - im Gegensatz zur bloßen Vorbereitungshandlung vor der Arbeit - der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit und damit der Fortsetzung der betrieblichen Tätigkeit. Unter diesen Voraussetzungen sei ein wesentlicher innerer Zusammenhang zwischen dem Betrieb und einem zur Nahrungsaufnahme zurückgelegten Weg anzunehmen.

 

Es gebe dazu sehr unterschiedliche Meinungen, so das Sozialgericht. Die betriebliche Risikosphäre werde teilweise nur vor dem Hintergrund bejaht, dass ein:e Arbeitnehmer:in durch den Arbeitgeber verpflichtet wird, auf der Unternehmensstätte zu arbeiten, an der nicht wie zuhause Nahrung aufnehmen werden könne. Dann seien die Beschäftigten darauf angewiesen, auswärts essen zu gehen oder sich Nahrung zu besorgen. Daraus folge umgekehrt die Annahme, dass der Kühlschrank zuhause immer gefüllt sei bzw. eine Selbstvorsorge im privaten Bereich stattzufinden habe. Ein:e Beschäftigte:r  im Homeoffice könne sich dann in die Küche auf einen versicherten Weg begeben, um dort sein Essen zuzubereiten und es auch am heimischen Esstisch zu verspeisen.

 

Allerdings könnten Versicherte auch auf der Betriebsstätte vorsorgen und sich Essen mitbringen, so die Gegenmeinung. Dann gäbe es auch dort keine Notwendigkeit, sich außerhalb Essen zu besorgen. Vielmehr müsse für die betriebliche Risikosphäre darauf abgestellt werden, ob die Arbeitsleistung im Homeoffice möglich und ob die Mittagspause in die Arbeitsorganisation eingegliedert sei.

 

Daran orientiert gibt es für das Gericht keinen Zweifel am Versicherungsschutz

 

Folgende Überlegungen stellt das Sozialgericht an:

 

„Nach Überzeugung der Kammer vermag das Kriterium, inwiefern ein Versicherter für die Mittagsmahlzeit an einem Arbeitstag selbst vorsorgen muss, ob zuhause oder für die Unternehmensstätte, die betriebliche Risikosphäre nicht zu begründen. Ob ein Versicherter es geschafft hat, vorab einzukaufen, oder ob er durch ein Familienmitglied bekocht wird, sind private Umstände, die nicht - auch nicht bei einer Tätigkeit auf der Betriebsstätte - mit dem Arbeitgeber in Verbindung zu bringen sind. Vielmehr erscheint es sachgerecht, darauf abzustellen, ob eine Pause wie im Büro auf der Unternehmensstätte gestaltet wird, d. h. nicht beliebig, sondern innerhalb bestimmter zeitlicher und örtlicher Vorgaben zu nehmen ist. Soll also trotz den Änderungen einer digitalen Arbeitswelt an dem ausnahmsweisen Versicherungsschutz eines Weges mit einer eigenwirtschaftlichen Intention der Nahrungsmittelaufnahme bzw. Nahrungsmittelbesorgung festgehalten werden, wie es das Bundessozialgericht derzeit für Wege nach und vom Betriebsgelände bejaht, kommt es demnach vielmehr auf die Einbindung der Pause in die Arbeitsorganisation an.“

 

Hier konnte der Kläger glaubhaft versichern, zwischen den Meetings im Homeoffice nur eine zeitlich eng umgrenzte Mittagspause gehabt zu haben. Das Gericht schloss daraus, dass die Mittagspause nicht beliebig, sondern betrieblich - durch die Meetings - vorgegeben, war. Damit war ein betrieblicher Zusammenhang für die Stärkung und Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit auch zeitlich wie auf der Unternehmensstätte zu bejahen. Der Kläger habe glaubhaft angegeben, dass er das Essen (Leberkässemmel und Eintopf) in der verbleibenden Mittagspause hätte verzehren wollen. Die Voraussetzungen der Zurechnung des Weges zur betrieblichen Risikosphäre waren demnach erfüllt.

 

 

Das sagen wir dazu:

Berufsgenossenschaft legt Berufung ein

 

Andrea Schafroth, Prozessvertreterin des Klägers, vom DGB Rechtsschutzbüro München hat inzwischen auch schon die Berufungsbegründung der Gegenseite erhalten. Viel steht da nicht drin. Die Beklagte meint, das Sozialgericht habe unterschiedliche Begrifflichkeiten nicht voneinander abgegrenzt.

 

Es gebe zwei betriebsbezogene Merkmale, das Handlungsziel und die Betriebsbedingtheit. Die zeitliche Komponente – nämlich die von Meetings umgrenzte Mittagspause – hätte das Sozialgericht nicht als betriebliche Risikosphäre ansehen dürfen. Da es keine örtlichen Vorgaben im Sinne der Anwesenheit des Versicherten auf der Betriebsstätte gebe, sei die Nahrungsaufnahme dem häuslichen Bereich nicht dem betrieblichen Risiko zuzuordnen. Deshalb habe der Kläger nicht unter Versicherungsschutz gestanden.

 

Nichts Neues, wie wir meinen. Das BSG hat als Voraussetzung eindeutig die Einbindung der Pause in die Arbeitsorganisation als wesentliches Kriterium angesehen und nicht etwa die körperliche Anwesenheit auf der Betriebsstätte im Sinne des Arbeitsplatzes vor Ort bei einem Arbeitgeber.

 

Man mag gespannt sein, wie sich das Landessozialgericht dazu stellen wird.