Das Göttinger Gänseliesel ist das meist geküsste Mädchen der Welt.
Das Göttinger Gänseliesel ist das meist geküsste Mädchen der Welt.

Göttingen ist eine traditionsreiche Universitätsstadt. Bismarck und Heine, Heisenberg und Gauß, Richard von Weizäcker und Gerhard Schröder haben hier studiert. Noch heute kann man als Tourist den Karzer besichtigen, das universitätseigene Gefängnis.
 

Als Doktor muss man das Gänseliesel küssen

Eine deutlich freundlichere Institution ist das sogenannte Gänseliesel-Küssen. Diese Dame thront in Bronze auf einem Brunnen vor dem Alten Rathaus im Herzen der Stadt. Um sie zu küssen, müssen die frisch gebackenen Doktorinnen und Doktoren einen steilen Aufstieg wagen.
 
Damit sie sich nicht schon auf dem Weg dorthin verausgaben, werden sie von Kolleginnen und Kollegen in einem Doktorwagen von der Universität zum Brunnen quer durch die Stadt gezogen.
 
Bei der Rückkehr von einem solchen Einsatz war eine Mitarbeiterin des Max-Planck-Instituts für experimentelle Medizin verunglückt. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen hatte sie den Wagen vom Gänseliesel zum Institut bringen wollen, als sie ein Unwohlsein verspürte, in sich zusammensackte und rücklings auf den Bürgersteig stürzte. Sie erlitt eine Schädelfraktur.
 

Landessozialgericht lehnt dienstlichen Charakter ab

Das Landessozialgericht Niedersachen-Bremen hat in seiner Entscheidung, ebenso wie die beklagte Berufsgenossenschaft, diesen Vorfall nicht als Arbeitsunfall anerkannt.
 
Der Unfallversicherungsschutz gelte zwar grundsätzlich auch für Betriebsfeiern. Bei dem Promotionsumzug fehle es jedoch an dem erforderlichen betrieblichen Charakter, auch wenn die Klägerin für die Veranstaltung von der Arbeit freigestellt worden sei und außer ihr auch sämtliche anderen Mitarbeitenden des Projektteams an dem Umzug teilgenommen hätten.
 
Er sei vielmehr „Ausdruck der persönlichen Freude in einem besonderen Rahmen und diene dem Erhalt einer langen studentischen Tradition.“ Dies gelte auch dann, wenn ein institutseigener Doktorwagen verwendet werde.
 
Außerdem fehle es an einem inneren Zusammenhang zwischen dem Umzug und dem Unfall. Dabei beruft sich das Gericht auf die Aussagen der Kolleginnen, wonach der Klägerin beim Gehen unwohl geworden sei, sie habe gestöhnt, sei zusammengesackt und auf den Hinterkopf gefallen. Dies deute eher auf einen Schwindelanfall hin als auf ein Stolpern, wie dies die Klägerin behauptet hatte. Ein solches Unfallgeschehen, dass auch ohne den Bezug zum Umzug eingetreten wäre, unterliege nicht dem Schutz der Unfallversicherung.
 
Links
Pressemitteilung des LSG Niedersachsen-Bremen
 
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Das sagen wir dazu:

Schwindelanfälle in Zusammenhang mit Promotionen scheint es nicht nur in Bayreuth zu geben. War es tatsächlich ein solcher Schwindelanfall – nach Ansicht der Berufsgenossenschaft verursacht durch einen schlecht eingestellten Bluthochdruck – der zu dem Unfall führte, entfällt schon deshalb der erforderliche Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit. Es liegt kein Arbeitsunfall vor.

Gemeinschaftsveranstaltungen müssen Verbundenheit und Gemeinschaftsgefühl fördern

Nicht ganz so überzeugend sind die Ausführungen des Gerichts zum betrieblichen Charakter des Promotionszuges. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts stehen betriebliche Gemeinschaftsveranstaltungen unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn dadurch die Verbundenheit und das Gemeinschaftsgefühl der Beschäftigten gefördert wird. Dazu muss zum einen der Arbeitgeber die Veranstaltung durchführen oder durchführen lassen. Zum anderen müssen alle Angehörigen des Betriebs oder zumindest einer Abteilung die Möglichkeit haben, an der Veranstaltung teilzunehmen.

Wenn also die Veranstaltung im Wesentlichen von dem Institut organisiert und durchgeführt worden ist, an dem der Hauptakteur der Veranstaltung promoviert hat, könnte durchaus eine solche Gemeinschaftsveranstaltung vorgelegen haben. Sollte sie insgesamt eher privaten Charakter gehabt haben, wäre dies nicht der Fall.

Hier gab es durchaus Anhaltspunkte, die für die erste Variante sprechen, etwa dass der Umzug in der Arbeitszeit stattfand. Andererseits hatten neben den Institutsmitarbeitern auch andere Personen an dem Umzug teilgenommen, wahrscheinlich Freunde und Familie. Eine Gemeinschaftsveranstaltung schon deshalb abzulehnen, weil es sich „nur“ um eine Tradition handelt, greift allerdings zu kurz.

Kein Versicherungsschutz bei „bloßem Brauchtum“?

Denn auch Traditionen können als Anknüpfungspunkte für Gemeinschaftsveranstaltungen dienen, wie etwa ein gemeinschaftlicher Besuch eines Weihnachtsmarktes – der in Göttingen praktischerweise um das Gänseliesel herum stattfindet – oder betriebliche Karnevalsveranstaltungen im Rheinland.

Dort käme wohl kein Gericht auf die Idee, einer Feierlichkeit den Schutz des Unfallversicherungsrechts mit der Begründung zu versagen, es handele sich um „bloßes Brauchtum“. Die Richterinnen und Richter aus dem Norden hingegen sind einmal mehr ihrem Ruf gerecht geworden, mit derartigen Veranstaltungen zu fremdeln.

Rechtliche Grundlagen

§ 8 SGB VII Arbeitsunfall

(1) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.

(2) Versicherte Tätigkeiten sind auch

1. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit,
2. das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges, um
a) Kinder von Versicherten (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wegen ihrer, ihrer Ehegatten oder ihrer Lebenspartner beruflichen Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen oder
b) mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug zu benutzen,
3. das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges der Kinder von Personen (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wenn die Abweichung darauf beruht, daß die Kinder wegen der beruflichen Tätigkeit dieser Personen oder deren Ehegatten oder deren Lebenspartner fremder Obhut anvertraut werden,
4. das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben,
5. das mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängende Verwahren, Befördern, Instandhalten und Erneuern eines Arbeitsgeräts oder einer Schutzausrüstung sowie deren Erstbeschaffung, wenn diese auf Veranlassung der Unternehmer erfolgt.

(3) Als Gesundheitsschaden gilt auch die Beschädigung oder der Verlust eines Hilfsmittels.