Suizidversuch auf dem Weg zur Arbeitsstätte?
Suizidversuch auf dem Weg zur Arbeitsstätte?

Mit Urteil vom 30.08.2016 hat das Sozialgericht (SG) Karlsruhe entschieden, dass ein Arbeitnehmer die Beweislast dafür trägt, dass der Zusammenstoß mit einem LKW tatsächlich ein Arbeitsunfall war und kein (erneuter) Selbstmordversuch.

Kläger wird von LKW angefahren

Der Kläger wurde auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte von einem Lkw auf gerader Strecke beim Überqueren einer innerörtlichen Durchgangsstraße angefahren und schwer verletzt.
Das von der Polizei eingeholte verkehrstechnische Gutachten hat ergeben, dass der Unfall für den Lkw-Fahrer unvermeidbar gewesen war und dieser die innerorts geltende Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h eingehalten hatte.
Der Lkw-Fahrer hat ausgesagt, dass der Kläger die Fahrbahn bereits überquert hatte und dann plötzlich wieder zurück auf die Straße getreten sei, womit er nicht gerechnet habe.

Selbsttötungsabsicht oder Unachtsamkeit?

Der Kläger begründete seine Rückkehr auf die Straße damit, wichtige Arbeitspapiere und seine Arbeitsschuhe vergessen zu haben und dies der Grund der Umkehr gewesen sei. Hierbei habe er den Lkw aus Unachtsamkeit übersehen.
Gegenüber seiner Ehefrau hatte der Kläger mehrfach Selbstmordabsichten geäußert und einige Monate zuvor auch einen Selbstmordversuch verübt.

Vorliegen eines Arbeitsunfalls muss Kläger beweisen
Mit der Begründung, dass Hinweise für einen erneuten Selbstmordversuch vorlägen, lehnte die beklagte Berufsgenossenschaft die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab. Denn, so die Beklagte, einen LKW auf gerader Strecke habe man nicht übersehen können.
Nach Beiziehung der polizeilichen Ermittlungsakte und Anhörung des Klägers, hat das SG Karlsruhe entschieden, dass in Anbetracht der Gesamtumstände die Beweislast bzw. Feststellungslast dafür, dass ein Arbeitsunfall und kein (erneuter) Suizidversuch vorliegt, bei dem Kläger liegt.
Zu Recht habe die Berufsgenossenschaft darauf abgestellt, dass wegen der Erkrankungen des Klägers und dem nachgewiesenen früheren Suizidversuch die Voraussetzungen eines versicherten Arbeitsweges nicht erwiesen seien.


Hier geht es zur Pressemitteilung des Sozialgericht Konstanz zum Urteil vom 30.08.2016 - S 4 U 2601/15 -
Zum Thema „Beweislast des Unfallversicherungsträgers bei fraglicher Selbsttötungsabsicht“ lesen Sie hier die Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20.01.2015 - L 3 U 365/14

Das sagen wir dazu:

Entscheidung des Sozialgerichts wirft Fragen auf

Die Entscheidung des SG Karlsruhe kann nicht unwidersprochen bleiben. Allein daraus, dass ein Arbeitnehmer schon einmal einen Suizidversuch unternommen hat zu schließen, dass es sich bei dem zugrundeliegenden Wegeunfall des Klägers um einen erneuten Selbsttötungsversuch handelt, mutet schon befremdend an. Dies insbesondere auch deshalb, da die vom Kläger vorgebrachten Gründe, die ihn zur Rückkehr auf die Fahrbahn bewegten, durchaus nachvollziehbar sind.

Sozialgerichte sind zur Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet

Aus der Pressemitteilung ergibt sich mit keinem Wort, welche Ermittlungen das SG im Hinblick auf die Persönlichkeitsstruktur des Klägers aufgenommen hat. Es hätte zumindest durch ein psychiatrisches Gutachten die Frage geklärt werden können und auch müssen, ob der Unfall auf dem Weg zur Arbeit mit dem vom Kläger zuvor unternommenen Suizidversuch vergleichbar ist. Dies schon deshalb, da bestimmte Formen des Suizids nicht für alle Persönlichkeiten in Frage kommen. Dass Ermittlungen in diese Richtung durch das SG veranlasst wurden, lässt sich der Pressemitteilung des Gerichts nicht entnehmen, mithin davon auszugehen ist, dass der Entscheidungsfindung lediglich die polizeilichen Ermittlungsakten, ein verkehrstechnisches Gutachten und ein unbestrittener Selbsttötungsversuch zu Grunde lagen. Da Sozialgerichte zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen verpflichtet sind, hätte es den Karlsruher Sozialrichtern*innen gut angestanden, auch der Frage nachzugehen, ob ein, wie von diesen angenommener, Suizidversuch überhaupt mit der Persönlichkeitsstruktur des Klägers in Einklang zu bringen ist.

Sozialgericht kehrt die Beweislast um

Nach Auffassung des Autors sind Anhaltspunkte für einen möglichen Suizidversuch als Beweis nicht ausreichend. Es ist allein Aufgabe der Gesetzlichen Unfallversicherung, eine wie von dieser behaupteten Selbsttötungsabsicht nachzuweisen. Diese Ansicht scheinen die Richter*innen der 4. Kammer des SG Karlsruhe offenkundig nicht zu vertreten, ansonsten man die Beweislast bzw. Feststellungslast dafür, dass es sich tatsächlich um einen Wegeunfall gehandelt hat, nicht dem Kläger auferlegt hätte.