Trinkgeld einer Friseurin darf nicht auf Hartz IV-Leistungen angerechnet werden.
Trinkgeld einer Friseurin darf nicht auf Hartz IV-Leistungen angerechnet werden.

Mit Urteil vom 30.03.2016 hat die 4. Kammer des Sozialgerichts Karlsruhe entschieden, dass Trinkgeldeinnahmen von Hartz IV – Leistungsbeziehern grundsätzlich nicht als Einkommen anzurechnen sind. Geben von Trinkgeld, so die Richter*innen des Sozialgerichts Karlsruhe, stelle eine freiwillige Leistung dar und beruhe nicht auf einer rechtlichen oder sittlichen Verpflichtung. 

Jobcenter schätzt Trinkgeldeinnahmen und reduziert Hartz IV - Leistungen

Die Klägerin ist alleinerziehende Mutter und in Teilzeit als Friseurin beschäftigt. Zuletzt erzielte sie aus ihrer Tätigkeit, bei einer monatlichen Arbeitszeit von 60 Stunden, einen Bruttoarbeitslohn von 540 Euro. 

Da die Klägerin eine Nachfrage des Jobcenters nach ihren Trinkgeldeinnahmen nicht beantwortete, ging das Jobcenter von einem geschätzten durchschnittlichen Zusatzverdienst von 60 Euro durch Trinkgeld aus. Diese Annahme beruhte auf einer Schätzung. Das Jobcenter ging bei 60 Arbeitsstunden pro Monat und einem geschätzten Kunden pro Arbeitsstunde und 1 Euro Trinkgeld pro Kunde, von monatlichen Trinkgeldeinnahmen in Höhe von 60 Euro aus. 

Ausgehend von 600 Euro Bruttoverdienst rechnete das Jobcenter 300 Euro monatliches Einkommen an (nach den gesetzlichen Vorschriften waren insgesamt 300 Euro als Grundfreibetrag, als Abzug für Sozialversicherungsbeiträge sowie als zusätzlicher Erwerbstätigenfreibetrag vom anrechenbaren Einkommen abzuziehen). Im Klageverfahren bestritt die Klägerin 60 Euro Trinkgeld je Monat eingenommen zu haben. Sie habe eine neue Stelle angetreten und wenig Stammkunden gehabt. Es habe Tage gegeben, an denen sie überhaupt kein Trinkgeld erhalten hätte, an anderen Tagen zwischen 2 Euro bis 2,50 Euro. Die Trinkgeldeinnahmen habe sie an diesen Tagen für das Mittagessen ausgegeben.

Grundsätzlich keine Anrechnung von Trinkgeldeinnahmen 

Das Sozialgericht Karlsruhe kam in seiner Entscheidung vom 30.03.2016 zu dem Ergebnis, dass es offengelassen werden könne, ob das Jobcenter überhaupt berechtigt war, eine Schätzung der Trinkgeldeinnahmen vorzunehmen, da Trinkgeldeinnahmen von Hartz IV-Leistungsbeziehern grundsätzlich nicht anzurechnen sind. 

Denn das Geben von Trinkgeld beruhe nicht auf einer rechtlichen oder sittlichen Verpflichtung, sondern stelle eine freiwillige Leistung dar, die eine besonders gelungene Dienstleistung honoriere und dem Dienstleistenden selbst zukommen soll. Wüsste der Kunde, dass das Trinkgeld im Ergebnis die Situation des Dienstleistenden nicht verbessern würde, weil sich im selben Umfang die Leistungen des Jobcenters vermindern, würde kaum noch Trinkgeld an die Betroffenen gezahlt werden. 

Dies wäre nicht nur ungerecht im Vergleich zu den Kollegen, die mehr verdienen und zusätzlich ihr Trinkgeld behalten dürfen, sondern auch schädlich für die Motivation der betroffenen SGB II-Leistungsbezieher und ihre Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Wegen Vorliegens einer unzumutbaren Härte habe daher die Anrechnung zu unterbleiben, sofern das Trinkgeld ca. 10 % der gewährten Hartz IV-Leistungen oder einen monatlichen Betrag von 60 Euro nicht übersteigt.

Berufung zum Landessozialgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen

Das Sozialgericht hat das Rechtsmittel der Berufung zugelassen. Die Zulassung der Berufung beruht auf dem Nichterreichen der Berufungssumme von 750,- EUR und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz.

Anmerkung:

Die Karlsruher Entscheidung ist im Lichte der gesetzlichen Vorgaben, die auch bei den Jobcentern nicht unbekannt sein sollten, begrüßenswert. 

Nach § 11a (5) Sozialgesetzbuch II zählen zu nicht berücksichtigendem Einkommen Zuwendungen, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben, sind nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit

1. ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten grob unbillig wäre oder

2. sie die Lage der Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären.


Da es wohl bisher noch keine vergleichbaren Fälle gab, hat das Sozialgericht das Rechtsmittel der Berufung zugelassen. Es ist zu hoffen, dass das Landessozialgericht die erstinstanzliche Entscheidung bestätigen wird.

Über den weiteren Verlauf der Sache werden wir berichten.

Hier geht es zum Urteil des Sozialgericht Karlsruhe vom 30.03.2016


Lesen sie auch unsere Beiträge:

Im Praxistipp: § 11a (5) Sozialgesetzbuch II (Nicht zu berücksichtigendes Einkommen) und § 144 Sozialgerichtsgesetz

Rechtliche Grundlagen

§ 11a (5) Sozialgesetzbuch II (Nicht zu berücksichtigendes Einkommen) und § 144 Sozialgerichtsgesetz

Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (Artikel 1 des Gesetzes vom 24. Dezember 2003, BGBl. I S. 2954)
§ 11a Nicht zu berücksichtigendes Einkommen

(1) Nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind
1. Leistungen nach diesem Buch,
2. die Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz und nach den Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes vorsehen,
3. die Renten oder Beihilfen, die nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schaden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit erbracht werden, bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz.

(2) Entschädigungen, die wegen eines Schadens, der kein Vermögensschaden ist, nach § 253 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs geleistet werden, sind nicht als Einkommen zu berücksichtigen.

(3) Leistungen, die aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck erbracht werden, sind nur so weit als Einkommen zu berücksichtigen, als die Leistungen nach diesem Buch im Einzelfall demselben Zweck dienen. Abweichend von Satz 1 sind als Einkommen zu berücksichtigen
1. die Leistungen nach § 39 des Achten Buches, die für den erzieherischen Einsatz erbracht werden,
a) für das dritte Pflegekind zu 75 Prozent,
b) für das vierte und jedes weitere Pflegekind vollständig,
2. die Leistungen nach § 23 des Achten Buches.

(4) Zuwendungen der freien Wohlfahrtspflege sind nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit sie die Lage der Empfängerinnen und Empfänger nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären.

(5) Zuwendungen, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben, sind nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit
1. ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten grob unbillig wäre oder
2. sie die Lage der Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären.

------------------------------------------------------------------------

Sozialgerichtsgesetz (SGG)
§ 144

(1) Die Berufung bedarf der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluß des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes
1. bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro oder
2. bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000 Euro
nicht übersteigt. Das gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

(2) Die Berufung ist zuzulassen, wenn
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2. das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Landessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.

(4) Die Berufung ist ausgeschlossen, wenn es sich um die Kosten des Verfahrens handelt.